- Kultur
- Politisches Buch
Leider doch zu kurz
Robert Misik über Liebe in Zeiten des Kapitalismus
Als Wolf Biermann noch ein kluger Linker war - ja, das ist sehr lange her -, sang er in seiner »Ballade für einen wirklich tief besorgten Freund«: »Wenn solche wie du entschieden zu kurz gehen, dann geh’n eben andre ein bisschen zu weit!« Zu kurz gingen laut Biermann damals die DDR-Politiker, die es mit dem Sozialismus nicht ernst genug genommen hätten. Der Liedermacher nahm jenen damals noch sehr ernst und wollte für ihn, wenn nötig, auch ein bisschen zu weit gehen.
Ernst meint es nun auch der österreichische Publizist und Journalist Robert Misik. In seinem neuen Buch taucht Biermanns Satz in veränderter Form auf. Misik will das »Abenteuer des radikalen Denkens« wagen und dabei auch lieber ein bisschen zu weit gehen - in einer Welt, in der andere dies nicht wagen und stattdessen dem Gerede der Alternativlosigkeit und Unveränderbarkeit folgen.
In den 33 Aufsätzen, die das Buch versammelt, beschäftigt Misik sich mit 33 unterschiedlichen Begriffen, um die herum er seine Gedanken zur Gegenwart ausbreitet. Das Spektrum ist überwältigend. Die Themen reichen von Liebe bis Kollaps, von Angst bis Freiheit, von Erfolg über Ironie bis Identität, Warenkonsum, Integration und Glück.
Misik hat sich viel vorgenommen. Die kurzweilig verfassten Texte, die zumeist schon in der »tageszeitung«, dem »Freitag«, der »Neuen Zürcher Zeitung« sowie in österreichischen Blättern wie »profil« oder »Falter« veröffentlicht worden sind, bieten viel Erkenntnisgewinn. Die Lektüre lohnt. Dieser Band weist Misik erneut als einen wunderbaren Essayisten und scharfen Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen aus.
Der Österreicher, der in den 1980er Jahren der Gruppe Revolutionäre Marxisten angehörte, macht deutlich, in welch eingeschränktem Fahrwasser die Welt des Neoliberalismus treibt. Er gibt Anstöße, die Gegebenheiten zu hinterfragen. Dies macht er beispielsweise, wenn er den konservativen Freiheitsbegriff lediglich als »Freiheit des privaten Eigentums« demaskiert und jenem einen progressiven Begriff entgegensetzt, der soziale Gleichheit und individuelle Freiheit verbindet. Oder wenn er darauf beharrt, dass die Bereitstellung öffentlicher Daseinsvorsorge sowie Liberalität und gesellschaftliche Solidarität wertvolle Güter seien. Gerade in Zeiten, in denen sich in Deutschland die AfD anschickt, sich in der Parteienlandschaft zu etablieren, und in Österreich die rechtsradikale FPÖ bereits Regierungsverantwortung übernommen hat, sind seine aufklärenden Texte eine Wohltat.
Zu tief stapelt Misik, der jüngst auch eine Biografie über den letzten SPÖ-Kanzler Christian Kern auf den Buchmarkt gebracht hat, selten. Kaum einer seiner Texte kommt ohne Verweise oder Zitate aus. Gewährsleute sind ihm aus der Soziologie Siegfried Kracauer und Eva Illouz, er schöpft bei den Philosophen Immanuel Kant, Walter Benjamin und Slavoj Žižek und natürlich immer wieder bei Karl Marx. Aus diesem Potpourri bedient sich Misik genüsslich.
Trotz dieser großen Bezüge bleiben einzelne Stichworte jedoch lediglich Andeutungen und Versuche. Dies wäre kein Problem, wenn Misik in der Gesamtschau seinen Anspruch, »zu weit« gehen zu wollen, einlösen würde. Das gelingt ihm nicht ganz. Da hätte man etwas mehr erwartet. Aus den Texten spricht Misiks tiefe Sehnsucht nach einer vergangenen Welt: die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, als in Deutschland und Österreich sozialdemokratische Reformen eingeleitet wurden. Aus seiner Bewunderung für die Kanzler Willy Brandt und Bruno Kreisky macht er jedenfalls keinen Hehl. Diese positive Bezugnahme auf eine idealtypische Sozialdemokratie soll hier nicht bekrittelt werden. Jedoch ist derzeit eine progressive Sozialdemokratie, wie Misik sie fordert, schwer vorstellbar. Fraglich auch, wie sie zur Verbesserung des Bestehenden beitragen würde.
Misik ist ein unermüdlicher und exzellenter Schreiber gegen Neoliberalismus, Ungerechtigkeit und Hass. Ein Revolutionär ist er aber nicht (mehr?). Da helfen auch keine Zitate von Karl Marx.
Robert Misik: Liebe in Zeiten des Kapitalismus. Brandstätter Verlag, 192 S., geb., 19,90 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.