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Empörung darf Argumente nicht ersetzen
Sahra Wagenknecht wirbt für linken Aufbruch und solidarische Auseinandersetzungen in der LINKEN
Deutschland richtet sich auf eine weitere Legislatur mit der Großen Koalition ein. Bleibt der LINKEN etwas anderes, als sich ebenfalls mit ihr einzurichten?
Na, einrichten sollten wir uns nicht. Wir sind die einzige Opposition gegen Waffenexporte, Krieg und Sozialabbau, und es ist unsere Aufgabe, die soziale Schieflage immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen. AfD, FDP und Grüne werden das nicht machen. Es ist absehbar, dass die Probleme jetzt weitere vier Jahre verschleppt werden. Altersarmut wird weiter wachsen, gegen Kinderarmut wird nichts getan, der Pflegenotstand wird ausgesessen. Wir haben ein chronisch unterfinanziertes Bildungssystem, vor allem an Schulen in sozial schwierigen Vierteln fehlen Lehrer, auch da passiert nichts. Wir werden immer wieder deutlich machen, dass es dazu Alternativen gibt.
Sahra Wagenknecht, gemeinsam mit Dietmar Bartsch Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag, sorgt immer wieder für Aufregung in der Linkspartei. Entweder, weil ihr Äußerungen über die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin als Versuche angelastet werden, mit Argumenten der AfD deren Wähler zurückgewinnen zu wollen. Oder weil sie gemeinsam mit Oskar Lafontaine, Ehemann und Fraktionschef der LINKEN im Landtag von Saarbrücken, mit dem Werben für eine linke Sammlungsbewegung Unsicherheit schürt, vor allem darüber, was eine solche Bewegung für die eigene Partei zur Folge hätte.
Die in Jena geborene Wagenknecht, die in der DDR nicht studieren durfte und erst 1989 in die SED eintrat, verteidigte nach der Wende den Sozialismusversuch in der DDR. Die Rolle einer sachkundigen, aber selten auf kollektive Harmonie bedachten Politikerin haftet Wagenknecht seit jeher an, als Sprecherin der Kommunistischen Plattform der PDS/Linkspartei diente sie den Medien jahrelang als Inbegriff einer linken Diva und Aufrührerin der kapitalismuskritischen Linken in der eigenen Partei gegen das parteiinterne Establishment. Gregor Gysi verhinderte mit einer Rücktrittsdrohung vor Jahren, dass sie an seiner Seite Fraktionsvorsitzende wurde. Inzwischen gehört Wagenknecht zum unbestrittenen Führungspersonal der LINKEN, mit ihren Auftritten füllt sie Säle und Plätze.
In den eigenen Reihen ist sie gleichwohl noch immer umstritten. Zuletzt erklärte Wagenknecht eine rot-rot-grüne Machtoption im Bund für gestorben und erntete dafür empörte Reaktionen von Landespolitikern, die dieses Regierungsmodell gerade in Berlin und Thüringen praktizieren. Mit der Linkspolitikerin sprach Uwe Kalbe.
Die Situation der LINKEN ist nicht leichter geworden. Die AfD kommt als Gegner hinzu, die Grünen waren schon fast CDU-Mehrheitsbeschaffer, die SPD ist wieder in der Koalition verschwunden. Ein Fähnlein der letzten Aufrechten?
Im Bundestag bildet sich die wirkliche Mehrheit im Land nicht ab. Es gibt viele Menschen, die eine andere Politik wollen. Denen eine Stimme zu geben, ist eine wichtige Aufgabe. Tatsächlich sind es Mehrheiten, die sich einen höheren Mindestlohn wünschen, ein besseres Rentensystem, eine Vermögenssteuer für sehr Reiche. Es ist traurig, dass solche Forderungen heute nur noch die LINKE vertritt. Denn es ist ja nicht so, dass die SPD mit diesen Themen in den Koalitionsverhandlungen gescheitert wäre; sie hat sie gar nicht erst eingebracht.
In der SPD hält sich die Begeisterung an der GroKo in Grenzen. Einige hoffen deshalb stark auf die Überprüfungsklausel am Ende des Vertrages. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass nach der halben Legislatur tatsächlich noch einmal Tacheles geredet wird von der SPD?
Das halte ich für Augenwischerei. Die können nach der Hälfte der Legislatur prüfen, ob der Koalitionsvertrag eingehalten wurde oder nicht. Aber der Koalitionsvertrag selbst ignoriert ja alle wichtigen Probleme. Gegen die wachsende Altersarmut ist dort eine einzige Maßnahme vorgesehen und die besteht darin, dass Menschen, die länger als 35 Jahre gearbeitet haben, eine Rente bekommen sollen, die zehn Prozent über dem Hartz IV-Satz liegt. Das ist doch ein Hohn. Ansonsten soll alles bleiben, wie es ist. Aber schon heute lebt jeder sechste Rentner in Armut. Oder der Pflegenotstand. In den Seniorenheimen fehlen ungefähr 40 000 Pflegekräfte, in den Krankenhäusern 70 000. Die Bundesregierung will 8000 Stellen mehr schaffen. Da kann die SPD am Ende prüfen, ob der Tropfen auf den heißen Stein tatsächlich gefallen ist. Wichtiger wäre die Frage, ob Nahles und Scholz irgendwann den Mumm haben, diese Koalition aufzukündigen, weil sie begreifen, dass sie so nicht weitermachen können. Aber gerade bei miesen Umfrageergebnissen ist das leider nicht wahrscheinlich.
Und wenn doch? Steht dann die LINKE mit offenen Armen bereit?
Wir haben immer versucht, Menschen zu erreichen, die von der SPD enttäuscht sind. Ich habe darauf gehofft, dass die SPD nach ihrer dramatischen Wahlschlappe am 24. September andere Schlüsse zieht. Sie redet jetzt von Erneuerung, tatsächlich macht sie genauso weiter wie vorher. Hubertus Heil als beinharter Verfechter der Agendapolitik ist nun Arbeits- und Sozialminister, das ist eine Verbeugung vor dem Unternehmerlager und keine Erneuerung. Auch Andrea Nahles war an allen falschen Weichenstellungen der letzten Jahre beteiligt.
Einige Mitglieder der LINKEN nehmen Ihnen schwer übel, dass Sie Rot-Rot-Grün für tot erklärt haben.
Jeder sollte die Grundrechenarten beherrschen. Es gibt zur Zeit auf Bundesebene nicht den Hauch einer Chance für eine Mehrheit mit SPD und Grünen. Denn an der Seite von Frau Merkel wird sich die SPD nicht erholen, es wird weiter abwärts gehen. Und klar würde ich mir wünschen, dass die LINKE all diejenigen einsammelt, die die SPD verliert. Dann stünden wir aktuell bei fast 30 Prozent und es gäbe andere Mehrheiten. Aber leider ist auch das nicht realistisch. Jedenfalls ist es uns bisher nicht gelungen.
Fühlen Sie sich durch Bodo Ramelow und Klaus Lederer missverstanden?
Ich weiß nicht, warum sie mir das Wort im Munde umdrehen. Ich habe für jeden erkennbar über die Bundesebene gesprochen, nicht über die Länder. In zwei Ländern haben wir rot-rot-grüne Regierungen. Wir werden uns natürlich bemühen, bei der Landtagswahl in Thüringen im nächsten Jahr wieder eine Mehrheit zu bekommen. Aber auf Bundesebene hat dieses Modell aktuell keine Chance. Aus rechnerischen wie aus inhaltlichen Gründen.
Das liegt sicher nicht nur an der SPD, sondern auch an den Grünen.
Die fahren einen Kurs in Richtung Union. Wirtschaftspolitisch passen sie längst besser zur FDP als zu uns.
Wieso funktioniert auf Landesebene, was im Bund unmöglich scheint? Sind Grüne und SPD auf Landesebene erträglicher oder ist es andersherum: Ist die LINKE in den Ländern verträglicher?
Wichtige Themen, die für die LINKE existenziell sind, stehen auf Landesebene nicht an. Im Bund können wir nicht in eine Koalition gehen, ohne die wirklich Reichen und die Konzerne stärker zu besteuern. Wer den Mut dazu nicht hat, kann auch die großen sozialen Aufgaben nicht lösen. Man kann das nicht aus den Überschüssen finanzieren, so wie das jetzt die Koalition versucht. Niedrigzinsen und eine boomende Konjunktur - beides muss nicht so bleiben. Also muss man eine andere Steuerpolitik machen. Das wäre mit SPD und Grünen inzwischen sehr schwierig.
Hinzu kommen die Differenzen in der Außenpolitik. Trotzdem haben die Wahlkämpfer der LINKEN vor der Bundestagswahl, Sie eingeschlossen, durchaus Rot-Rot-Grün in den Bereich des Möglichen gerückt.
SPD und Grüne sind seitdem noch weiter ins neoliberale Lager gerückt, beide unterstützen Aufrüstung, Kriegseinsätze der Bundeswehr und die Konfrontationspolitik gegenüber Russland. Vor der Wahl konnte man ja zumindest noch hoffen, dass die SPD sich nach der absehbaren Wahlschlappe neu aufstellt. Aber die SPD hat sich trotz Wahlniederlage dafür entschieden, an der Agenda 2010 festzuhalten. Und Jamaika ist nicht an den Grünen gescheitert. Das alles müssen wir doch zur Kenntnis nehmen.
Auch die AfD im Bundestag fordert nicht zur gemeinsamen Reaktion heraus? Kann dies die Fraktionen nicht wenigstens partiell zusammenschweißen?
Es wäre ein Fehler, sich mit den neoliberalen Parteien zu verbünden, um die AfD zu bekämpfen. Denn es sind ja gerade die neoliberale Politik, der Sozialabbau und die damit einhergehende Verunsicherung, die die AfD erst stark gemacht haben. Wer die AfD schwächen will, muss den Neoliberalismus ablösen und den Sozialstaat erneuern.
Ihnen wird ja zuweilen vorgeworfen, die Wähler ansprechen zu wollen, die die AfD gewählt haben.
Die mir das vorwerfen, haben offenbar nicht verstanden, was unsere Aufgabe ist. Natürlich müssen wir so viele Menschen wie möglich erreichen, vor allem solche, denen es nicht gut geht und deren Interessen von den Regierungen seit Jahren mit Füßen getreten werden. Seit der Agenda 2010 sind viele Menschen abgestürzt, sie arbeiten in Leiharbeit oder anderen Niedriglohnjobs, sie leben von Hartz IV oder schlechten Renten. Ein Teil von ihnen hat aus Enttäuschung und Wut AfD gewählt. Es ist nicht unsere Aufgabe, diese Wähler zu beschimpfen, sondern wir müssen uns fragen, warum es uns nicht gelungen ist, sie für die LINKE zu gewinnen.
Kränkt es Sie eigentlich, von den Mitgliedern der eigenen Partei in die rechte Ecke gestellt zu werden?
Wer so etwas verbreitet, weiß entweder nicht, was rechte Positionen sind, oder will diffamieren. Wir sollten so nicht miteinander umgehen. Das ist üble Denunziation.
Wie erklären Sie sich diese?
Alle Parteien führen nicht nur fruchtbare Debatten, es gibt immer auch Rivalität, Neid und Machtgerangel. Aber ich würde mir wünschen, die LINKE würde sich auch in diesem Punkt von anderen Parteien unterscheiden.
Sehen Sie keinen eigenen Anteil an dem Problem? Sie haben in der Diskussion zum Ausschluss von Migranten an der Essener Tafel die sozialen Ursachen kritisiert, die Bundesregierung kritisiert und die Armen in der Gesellschaft verteidigt. Wäre ein Satz nicht hilfreich gewesen: Eine Zurücksetzung von Migranten ist trotzdem falsch, weil sie in der Konkurrenz der Ärmsten Partei ergreift? Wäre damit nicht der Vorwurf vom Tisch gewesen, Sie hätten die Migranten zurückgesetzt, Rassismus gutgeheißen?
Die Essener Tafel hat Migranten nicht ausgeschlossen, sondern entschieden, bei einem Anteil von 75 Prozent keine weiteren Flüchtlinge aufzunehmen. Das war nicht rassistisch, sondern hilflos, ein Zeichen dafür, dass man mit den Problemen nicht mehr klargekommen ist. Und die Debatte, die daraufhin begann, fand ich empörend. Die gleichen Politiker, die die Verantwortung dafür tragen, dass es an den Tafeln überhaupt ein solches Gedränge gibt, haben den moralischen Zeigefinger erhoben und auf den Chef der Tafel eingedroschen. Die Essener Tafel ist übrigens nicht die erste, die einen Aufnahmestopp verhängt. An vielen Orten gab es diese Probleme, weil das Angebot sich nicht unbegrenzt erweitern lässt, aber inzwischen viel mehr Menschen auf die Tafeln angewiesen sind. Alte Menschen, die von ihren dürftigen Renten nicht leben können, Alleinerziehende, die mit Hartz IV ihre Kinder für 2,70 Euro am Tag ernähren sollen. Und dann kamen noch die vielen Flüchtlinge. So hat die Politik Verteilungskonflikte herbeigeführt, die das politische Klima vergiften. Statt einen ehrenamtlichen Tafel-Chef zu attackieren, der sich dafür einsetzt, Armut zu lindern, müssen wir die wirklich Verantwortlichen angreifen.
Verdrängt Moralisieren inzwischen die gesellschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Linken?
Wir müssen zumindest aufpassen, dass moralische Empörung nicht sachliche Argumente ersetzt. Wenn ich zum Beispiel kritisiere, dass die herrschende Politik darauf hinausläuft, dass die weniger Wohlhabenden die Hauptlast der Zuwanderung tragen, dann lautet der Vorwurf: Wer das sagt, spielt die Armen gegen die Ärmsten aus. Das ist doch absurd. Missstände verursacht nicht der, der sie anspricht. Es ist die herrschende Politik, die die Ärmeren in einen Interessengegensatz zu den Flüchtlingen bringt, am krassesten an den Tafeln, aber auch bei der Konkurrenz um Kita-Plätze, Niedriglohnjobs oder bezahlbare Wohnungen, von denen es viel zu wenige gibt. Oder auch an den überforderten Schulen in sozialen Brennpunkten, wo sich das Lernniveau weiter verschlechtert. Infolge der Flüchtlingskrise haben sich viele soziale Probleme verschärft, die es vorher schon gab. Und es trifft nicht die Besserverdienenden, sondern vor allem die, denen es ohnehin schon nicht gut geht. Es ist unsere Pflicht, das anzusprechen.
Wie kann man verhindern, dass die Ärmeren in einen Interessengegensatz zu den Flüchtlingen geraten? Durch Abschieben? Sicherung der EU-Außengrenzen?
Zunächst einmal dadurch, dass die sozialen Probleme gelöst werden, aus denen der Interessengegensatz resultiert. Wenn es genug Sozialwohnungen, ausreichend Kita-Plätze und gut ausgestattete Schulen besonders in den sozialen Brennpunkten gäbe und der Arbeitsmarkt wieder so reguliert würde, dass Lohndumping erschwert und der Niedriglohnsektor eingedämmt wird, wäre die Situation eine andere. Aber das zeigt eben auch, dass erfolgreiche Integration Voraussetzungen hat. Und die können nicht in beliebigem Umfang gewährleistet werden. Deshalb ist es so zentral, vor Ort, in den Heimatländern, Perspektiven zu schaffen.
Ist womöglich der Vorwurf des Rassismus an dieser Stelle ein ähnlich einfaches und damit verhängnisvolles Denkmuster wie das der Rechten, Flüchtlinge seien an der vermeintlichen Not der Deutschen schuld?
Wer meint, ein Ansprechen der Probleme sei »rassistisch«, weiß nicht, was echter Rassismus bedeutet und trägt dazu bei, ihn zu verharmlosen und unkenntlich zu machen.
Diese Debatten sind keine deutschen Debatten. Die Rechte ist europaweit auf dem Vormarsch, die Linke schwächelt im gleichen Maß, wie die Rechte gewinnt.
Es ist unterschiedlich. Es gibt erfolgreiche linke Projekte. In Frankreich war La France insoumise mit knapp 20 Prozent bei der Präsidentschaftswahl erfolgreich. Der Kopf der Opposition ist heute Jean-Luc Mélenchon, nicht mehr Marine Le Pen von der Front National. Da können wir durchaus etwas lernen. In Italien ist es schwieriger, da ist die klassische Linke in kleine Gruppen zersplittert. Wir haben stattdessen die Fünf-Sterne-Bewegung. Auch wenn sie teilweise Positionen vertritt, die ich nicht teile - viele ihrer Forderungen sind links. Diese Bewegung ist stärkste Kraft geworden und hatte rund 40 Prozent in Süditalien.
Ist diese Bewegung nicht auch ein Beispiel der einfachen Antworten? Sollten Antworten nicht vor allem richtig sein?
Es geht um richtige Antworten, die wir so formulieren, dass sie die Menschen verstehen. Wir müssen auch die Sprache derer sprechen, die in ihrer Biografie nie die Chance hatten, höhere Bildung zu erwerben.
Eine echte programmatische Aufgabe für eine linke Partei. Besonders in unsicheren Zeiten wie diesen. Sind Sie der Meinung, dass die Führung der Partei gerade einen guten Job macht?
Eine Partei, in der es ständig Streit und interne Reibereien gibt, wird nicht gut geführt. Ich würde mir wünschen, dass die Parteispitze sich auf ihre Aufgabe konzentriert, nämlich die Stärkung der LINKEN - aktuell wäre da vor allem im Osten viel zu tun - statt immer wieder gegen die Fraktionsspitze zu arbeiten.
Es gibt ja derzeit zum Beispiel das Angebot, in Regionalkonferenzen die Debatte über die Aufgaben der Partei zu führen. Haben Sie schon an einer teilgenommen?
Ich wurde nicht angefragt, mich an einer mit einem Inputbeitrag zu beteiligen. Diskussionen sollte man schon auf Augenhöhe führen. Unabhängig davon mache ich ständig öffentliche Veranstaltungen quer durchs Land und erreiche dabei sehr viele Menschen. Die Resonanz zeigt mir auch, dass wir mit unseren Argumenten sehr viel mehr Wählerinnen und Wähler erreichen könnten.
Über die potenziellen Wähler der Partei gibt es ja auch einen Streit. Warum eigentlich? Unerwünschte Wähler gibt es nicht, Wähler kann man doch nicht genug haben, oder?
Das sollte selbstverständlich sein. Zur Zeit ist es in bestimmten Milieus für uns leichter und in anderen schwerer. Ich weiß doch auch, dass ich meine besten Wahlkampfveranstaltungen mit mehreren tausend Teilnehmern in den Uni-Städten hatte. Aber umso mehr müssen wir daran arbeiten, auch dort wieder Fuß zu fassen, wo die Menschen leben, denen es schlecht geht oder die Abstiegsängste haben. Vor allem bei Arbeitern und Arbeitslosen haben wir verloren. Also haben wir nicht die Worte gefunden, diese Menschen zu erreichen. Und wenn wir auch nur halbwegs ernst nehmen, was wir an Rückmeldungen erhalten, dann hat das sehr viel damit zu tun, dass diese Menschen unsere Position in der Flüchtlingsfrage - offene Grenzen und Bleiberecht für alle - nicht nachvollziehen konnten. Dass sie den Eindruck hatten, dass wir ihre Probleme nicht ernst nehmen. Das muss sich ändern. Auch im berühmten urbanen Milieu gibt es übrigens viele Leute, die sich jeden Tag durchkämpfen müssen und denen die Miete die Hälfte des Einkommens wegfrisst. Wohlhabende Lifestyle-Linke dürften unter unseren Wählern eine Minderheit sein. Das sieht man auch daran, dass uns laut Umfragen fast niemand wegen der No-border-Position gewählt hat. Für die meisten unserer Wähler waren unsere sozialen Forderungen ausschlaggebend.
Kann schon der nächste Parteitag das Forum sein, solche Fragen zu beantworten?
Ich würde mir wünschen, dass wir auf dem Parteitag eine sachliche Debatte über diese Themen führen, ohne die diffamierende Unterstellung, da wolle jemand die AfD kopieren. Die AfD vertritt rassistische Positionen, das ist etwas völlig anderes, als Integrationsprobleme anzusprechen, Probleme von Konkurrenz, von Druck, der auf den Lebensverhältnissen der Ärmeren lastet. Wir müssen das Recht auf Asyl für Verfolgte verteidigen, aber wir sollten aufhören, Arbeitsmigration zu idealisieren. Sie schadet den Ländern, aus denen die Migranten kommen, weil sie so ihre besser Qualifizierten verlieren, und sie erhöht den Lohndruck bei uns.
Kommen wir zur Sammlungsbewegung - mit der Idee haben Sie und Oskar Lafontaine auch den Vorwurf ausgelöst, die LINKE zu schwächen oder gar zu spalten. Ebenfalls Denunziation?
Ja. Sammeln ist bekanntermaßen das Gegenteil von Spalten. Das Problem ist doch: Es wird auf absehbare Zeit keine Chance einer sozialen Regierung in Deutschland geben, wenn wir keinen neuen Aufbruch von links hinbekommen. Und die Reaktionen, die ich bekomme, auf Veranstaltungen, in Mails und Gesprächen, sind sehr groß. Wir können uns nicht damit abfinden, dass die SPD seit 1998 über zehn Millionen Wähler verloren hat, aber wir heute gerade mal zwei Millionen mehr als die damalige PDS haben. Wir müssen versuchen, auch den restlichen acht Millionen ein Angebot zu machen. Ich arbeite daran, weil ich überzeugt bin, dass etwas in Bewegung kommen muss, um die versteinerten Verhältnisse aufzubrechen. Ich will nicht zuschauen, wie die AfD von Wahl zu Wahl stärker wird, weil wir keine Chance haben, die unsoziale Politik zu korrigieren. Das Projekt einer neuen Sammlungsbewegung steht nicht in Konkurrenz zur LINKEN, sondern soll linke Politik auch für die Vielen attraktiv machen, die bisher unsere Partei nicht wählen.
Die Ankündigung gibt es seit Monaten. Wann kommt denn der Tag, an dem es konkret wird?
Wir führen Gespräche. Ich könnte mir vorstellen, dass noch vor dem Sommer ein erster öffentlicher Aufschlag erfolgt.
Vor dem Frühsommer, Spätsommer?
Ich hoffe, vor der Sommerpause.
Also Anfang Juli. Kürzlich hat sich eine SPD-nahe »Progressive Soziale Plattform« gegründet.
Das zeigt doch, dass die Idee in der Luft liegt.
Müssten Sie da jetzt nicht sofort eintreten?
Wir müssen die Bemühungen zusammenführen. Die jetzt gegründete Plattform ist stärker darauf orientiert, den Druck für eine andere Politik in der SPD zu organisieren. Das ist wichtig. Aber wir brauchen eine überparteiliche Bewegung, die sich an die Gesellschaft richtet und die nicht nur von Politikern gestartet wird, sondern auch von Künstlern, Intellektuellen.
Wäre der richtig große Wurf nicht eine Bewegung über die Grenzen Deutschlands hinaus? Auch wenn die Lage der Linken in Europa unterschiedlich ist. Wäre es nicht nötig, den Aufbruch der europäischen Linken zu organisieren?
Die europäische Linke sollte sich vernetzen, zusammenarbeiten, voneinander lernen. Um einen europaweiten Aufbruch zu starten, müssen wir in den einzelnen Ländern anfangen. Je stärker die Linke dort wird, desto stärker ist sie dann auch auf europäischer Ebene. Wir Deutschen sollten uns nicht anmaßen, die Probleme der italienischen Linken zu lösen oder Ratschläge zu erteilen, was in Griechenland zu tun ist. Wir müssen unseren Job machen. Wenn es in Deutschland einen linken Aufbruch gäbe und im Ergebnis eine sozialere Regierung, wäre das tatsächlich ein Segen für Europa. Denn Deutschland ist heute einer der unerbittlichsten Verfechter von Sozialabbau und Kürzungspolitik. Deutsche Lohnsteigerungen würden die wirtschaftliche Situation in Frankreich und Italien massiv entspannen.
Sven Giegold von den Grünen wirft Ihnen vor, dass Sie das Europäische Parlament geringschätzen oder keine sozialen Vorschläge für Europa machen, sondern immer nur im Nationalstaat denken.
Ich bin gegen den auch von den Grünen unterstützten deutschen Exportnationalismus und die Spardiktate, die in Südeuropa Arbeitslosigkeit und soziales Elend hervorrufen. Insofern sollte sich Sven Giegold lieber um die Antieuropäer in seiner Partei kümmern. Es gibt Gründe, warum in Brüssel die Interessen großer Unternehmen und Banken den Ausschlag geben. Sie sind die einzigen gut vernetzten, schlagkräftigen Lobbys, die es dort gibt. Es gibt keine auf europäischer Ebene kampffähigen Gewerkschaften und keine europäische Öffentlichkeit, die das EU-Parlament kontrolliert. Es gibt auch keine echten europäischen Parteien, sondern heterogene Zusammenschlüsse nationaler Parteien. Der Sozialstaat wurde nicht zufällig im Rahmen der einzelnen Staaten erkämpft und hatte auf EU-Ebene nie eine Lobby. Auch die LINKE ist zum Beispiel bei CETA überzeugt, dass nicht Kommissionspräsident Juncker solche Abkommen durchwinken sollte und auch nicht das Europaparlament. Wir wollen, dass jedes Land darüber entscheidet. Wenn man es mit dieser denunziatorischen Formel belegen möchte, ist das ein »Zurück zum Nationalstaat«. In Wahrheit heißt es aber: Wir wollen zurück zur Demokratie. Griechenland darf nicht von Berlin aus regiert werden, und ebenso wenig Italien oder Deutschland von Brüssel aus.
Eine europäische linke Sammelbewegung wäre eine Illusion?
Vielleicht ein Projekt für die Zukunft. Wir haben ja nicht zufällig zum Jahresauftakt der Bundestagsfraktion Jean-Luc Mélenchon eingeladen, der mit La France insoumise eine erfolgreiche Sammlungsbewegung verkörpert. Die Zusammenarbeit muss enger werden.
Wie sind eigentlich inzwischen Ihre Kontakte zur Kommunistischen Plattform?
Ich habe nach wie vor großen Respekt vor der Arbeit, die die Genossinnen und Genossen seit vielen Jahren ehrenamtlich machen. Selbstverständlich sind sie eine wichtige Strömung in unserer Partei.
Die inhaltlichen Positionen der Plattform - sind diese Ihnen so nahe wie früher?
Als Vorsitzende der Bundestagsfraktion vertrete ich natürlich nicht eine Strömung, sondern die Politik der gesamten LINKEN.
Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch galten früher als die Pole zweier Flügel in der Linkspartei, die manche sogar als verschiedene Welten empfanden. Inzwischen arbeiten Sie an der Fraktionsspitze im Bundestag so harmonisch zusammen, dass man sich fragt, was mit Ihnen passiert ist. Sind Ihre politischen Unterschiede verschwunden?
Nein, das zeigt, wie man mit Unterschieden so umgehen kann, dass daraus eine produktive Zusammenarbeit entsteht. Genau das würde ich mir in unserer Partei insgesamt wünschen. Natürlich gibt es immer noch Fragen, auf die Dietmar Bartsch und ich eine unterschiedliche Antwort haben. Darüber diskutieren wir. Aber das tun wir intern. Wenn wir das in der gesamten Partei, zumindest in der Führungsebene, so handhaben würden, wären wir sehr viel weiter.
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