»NSU-Opfer werden instrumentalisiert«

Vertreter der Stadt Kassel wollen nicht an Gedenkveranstaltung für den 2006 ermordeten Halit Yozgat teilnehmen

  • Sebastian Weiermann
  • Lesedauer: 4 Min.
Der vierte und der sechste April 2006 sind für viele Menschen in Deutschland keine gewöhnlichen Tage. An den beiden Tagen wurde zunächst Mehmet Kubasik in seinem Kiosk in Dortmund und dann Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel von den Neonazi-Terroristen des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) ermordet. Kubasik und Yozgat waren das achte und neunte Opfer der Mordserie. Jahrelang wurden die Hinterbliebenen verdächtigt. Ihre Sorge, Neonazis hätten die Morde begangen, wurde nicht ernst genommen. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 konnten die Menschen trauern, ohne dass ihnen offen oder heimlich eine Mitschuld an den Taten gegeben wurde.

Nun, mitten in den Vorbereitungen für den zwölften Jahrestag der Morde, veröffentlichte die Stadt Kassel eine Pressemitteilung, in der sie die Gedenkveranstaltung für Halit Yozgat aus »Sicherheitsgründen« absagte. In der kurzen Mitteilung hieß es, es sei »nicht auszuschließen, dass es während der eigentlich geplanten Gedenkveranstaltung zu sicherheitsrelevanten Vorkommnissen hätte kommen können«. Dem widersprach die Kasseler Polizei schnell. Sie sei für einen großen Einsatz vorbereitet und könne die Sicherheit gewährleisten. Doch die Stadt will sich trotzdem nicht am Gedenken beteiligen.

Für die »Initiative 6. April«, welche die Veranstaltungen zum NSU-Mord in Kassel organisiert, ist das ein Schlag ins Gesicht. Die Gespräche mit der Stadt hätten schon länger gestockt, teilte sie mit. Man habe sich deswegen dafür entschieden, die Kundgebung in Erinnerung an Halit Yozgat selbst durchzuführen. Die Stadt könne zwar »ihre Teilnahme«, aber nicht das Gedenken selbst absagen. Aktive in der Initiative mutmaßen, die Stadt wolle sich aus dem Gedenken »rausziehen«. Außerdem könnte das türkische Konsulat Druck ausgeübt haben. Diesem sei die Gedenkveranstaltung möglicherweise zu politisch.

Die Absage stieß auch andernorts auf Entsetzen. So sprach die freie Journalistin Elmas Topcu von einem »schrecklichen Signal«. Nach Jahren, in denen die Menschen unter der Unsicherheit gelitten hatten, nicht zu wissen, wer die Taten gegen sie begangen habe, würde so wieder »viel Vertrauen zerstört«. Unsicherheit sei eines der schlimmsten Gefühle, mit denen die Opfer kämpfen müssten. Topcu hat viel über das Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße berichtet. Vor und nach der Aufdeckung des NSU hat sie zudem die Opfer begleitet.

Die Absage in Kassel kommt allerdings nicht aus dem luftleeren Raum. Am 25. März wurde in der nordhessischen Stadt ein Brandanschlag auf eine türkische Moschee verübt. Der Staatsschutz geht von einer politischen Tat aus. Auch kurdische Linke könnten sie begangen haben. In Kassel wie auch in Dortmund fallen derzeit die Gedenktage in eine politisch heikle Zeit. Berivan Aymaz, Integrationspolitikerin der Grünen im nordrhein-westfälischen Landtag, warnte davor, die Spannungen zu ethnisieren: »Den aktuellen Konflikt als türkisch-kurdischen zu bezeichnen, ist falsch. Gegen den Einmarsch im syrischen Afrin waren auch türkische Kriegsgegner auf den Straßen. Letztendlich handelt es sich um einen Konflikt zwischen Demokraten und Antidemokraten, zwischen Nationalisten und Antinationalisten.« Diese Lage spielt allerdings auch beim Gedenken an die vom NSU begangenen Morde eine nicht geringe Rolle. In Dortmund erinnerte der türkische Generalkonsul in diesem Jahr nur gemeinsam mit Vertretern der Stadt und der Familie an Mehmet Kubasik. In früheren Jahren war das anders. Da sprachen auch Vertreter der Türkei bei der alljährlichen Demonstration.

Konflikte entlang der Linien des türkischen Nationalismus und der Frage von kurdischen oder alevitischen Identitäten sind im NSU-Kontext nicht neu. Elmas Topcu erinnert sich daran, dass es in der Keupstraße Konflikte gab, die »von den deutschen Ermittlern geschürt wurden«. Immer wieder hatten Polizei und Staatsanwaltschaft den Opfern des NSU Verbindungen zur türkischen Mafia oder zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK unterstellt. Dies habe zu »großem Misstrauen« untereinander geführt. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU hätten viele Menschen wieder zueinander gefunden, berichtete Topcu.

Dass das Gedenken trotzdem nicht fern von politischen Interessen ist, weiß auch Berivan Aymaz. »Die türkische Regierung versucht, das Gedenken an die NSU-Opfer zu instrumentalisieren, um den eigenen Nationalismus und Chauvinismus zu fördern«, erklärte sie. Doch dagegen kennt die Grünen-Politikerin ein Rezept: »Wenn die Auseinandersetzung mit Nationalismus und Rassismus beim Erinnern und Aufarbeiten eine zentrale Rolle einnimmt, dann bietet es keine Anknüpfungspunkte für Nationalisten.« Als positives Beispiel nannte sie das Kölner Birlikte-Fest. Das türkische Wort steht für »Miteinander«. Dieses wird bei dem jährlichen Fest auch gelebt. »Bei Birlikte wird immer stark darauf geachtet, dass türkische und kurdische Musiker auftreten und Vielfalt widergespiegelt wird«, so Berivan Aymaz.

Das Gedenken an Mehmet Kubasik verlief am Mittwoch in Dortmund ohne Zwischenfälle. 400 Menschen gedachten des NSU-Opfers am Abend mit einem Schweigemarsch. Der Mensch Mehmet Kubasik, die noch immer bestehenden Lücken in der Aufarbeitung und der Rechtsruck in der deutschen Gesellschaft standen im Mittelpunkt des Gedenkens. In Kassel wird es am Freitag vermutlich nicht anders aussehen. Nur dass sich die Stadt dort aus der Erinnerung an einen ermordeten Bürger zurückgezogen hat, hinterlässt einen faden Beigeschmack.

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