Widerstandsparabel unter Künstlern

Steffi Kühnert inszenierte »Sein oder Nichtsein« am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Man hört ihn, bevor man ihn sieht: ein ferngelenkter Miniaturpanzer fährt vor dem Eisernen Vorhang herum. Spielzeug oder Modell einer Vernichtungswaffe? Irgendwie beides, und das macht die Sache kompliziert. Es droht Krieg, aber von wem gegen wen geführt?

Der Vorhang hebt sich und die Front der Berliner Volksbühne (Ausstattung: Joachim Hamster Damm) wird sichtbar. Auf Polnisch ist in großen Lettern an der Fassade zu lesen: Narodowy Theater. Dies ist ein Narrenspiel, und seine Bühne findet es doppelt: im Theater und in der Weltgeschichte. Die Drehbühne arbeitet schwer, mindestens so schwer wie die Schauspieler in Steffi Kühnerts Inszenierung von »Sein oder Nichtsein«, der Adaption von Ernst Lubitschs Filmklassiker aus dem Jahre 1942. Aber anders ist nicht zu haben, wodurch diese Screwball-Komödie ihr Gewicht erlangt: schlagfertige Leichtigkeit.

Der böse Witz von »Sein oder Nichtsein«: die Parallelität von absurder Bühnenfarce, die im Sommer 1939 unter dem Titel »Gestapo« am Warschauer Polski-Theater geprobt wird und der kurz darauf hereinbrechenden realen Gestapo-Farce durch den deutschen Überfall auf Polen. Aber zu irgendetwas muss es doch gut gewesen sein, schon mal »Gestapo« gespielt zu haben?

Spielen also kann gefährlich sein, aber eben auch aus der Gefahr befreien. Der Schein von Wirklichkeit ist dabei mehr als bloßer Widerschein, er besitzt eine eigene Wirkmächtigkeit. Doch der muss man sich - wie Alice im Wunderland - erst einmal aussetzen, ihrem Unruhe stiftenden Verwirrungspotenzial. Shakespeare lässt im »Hamlet« nicht zufällig an der Stelle im Stück selbst ein Theaterstück aufführen, als sein jugendlicher Held nicht mehr durchblickt. Ist er oder die Zeit selbst verrückt? Das Spiel vor versammeltem Hof soll es an den Tag bringen.

Josef Tura ist der Star der Theatertruppe, schließlich ist er hier der Hamlet, wahlweise auch Hitler, eben alles, was Beifall bringt. Seine Frau Maria Tura kann es mit ihm an Narzissmus aufnehmen. Die Frage, wer von ihnen mehr in den Augen des Publikums gilt, hält ihre Ehe frisch. Sie hat einen Liebhaber, einen jungen polnischen Offizier, der immer dann, wenn Josef Tura als Hamlet seinen Monolog »Sein oder Nichtsein« beginnt, in der ersten Reihe aufsteht und hinausgeht - in die Garderobe von Maria Tura, was ihr Mann natürlich nicht weiß. Im großen Hamlet-Monolog rausgehen, immer aufs Neue, damit kann man einen Schauspieler töten.

Das ist die Nadel, die Lubitsch dem Show-Gewerbe-Luftballon in den hohlen Scheinleib sticht, sodass er mit Knall platzt. Natürlich voll bitterer Selbstironie. Die Frage ist hier jedoch: Was wird aus dieser Truppe von übergeschnappten Egomanen, wenn echte Gefahr droht, wenn das Verbrechen anstelle von Recht herrscht und wahllos Menschen ermordet werden? Wie selbstlose Helden sehen sie nicht aus, oder? Für einen Lacher könnten sie töten, gewiss, doch nur, wenn alle Scheinwerfer auf sie gerichtet sind. Aber im Stillen, vielleicht unbemerkt, zum Märtyrer werden?

»Sein oder Nichtsein« ist eine Widerstandsparabel unter Künstlern. Also von Zittern, Schminke, erst schleppender, dann scheppernder Tat. Der Erweis von Menschlichkeit und Heldentum an unerwarteter Stelle - jedoch mittels einer Hilfskonstruktion. Denn laut Lubitsch, der es wissen muss, braucht ein Schauspieler auch im Untergrund seinen großen Auftritt, mindestens einen wie den Sein-oder-Nichtsein-Monolog im »Hamlet«, aber natürlich ohne dass jemand aufsteht und rausgeht. Steffi Kühnert, die im vergangenen Jahr in Schwerin mit ihrer Regie von Hauptmanns »Ratten« bereits für Furore sorgte, hat sich wohl an ihre eigene lange Zusammenarbeit als Schauspielerin mit Leander Haußmann als Regisseur erinnert und lässt »Sein oder Nichtsein« als Klamotte unter ästhetisch strengen Aspekten wiederauferstehen. Und wie! Gut fürs Mecklenburgische Staatstheater Schwerin als letzte intakte Spielstätte in Mecklenburg-Vorpommern. Viel Berliner Publikum zog es zur Premiere hierher - das war unter Christoph Schroth schon so, warum also künftig nicht wieder?

Die Frage nach Sein oder Nichtsein ist bekanntlich in einem bestimmten Kontext immer richtig, zumal noch die kleinste alltägliche Geste betreffend. Bei einer so schwarzen Komödie, wo auf der einen Seite das Lachen, auf der anderen der Tod steht, darf es höchstens Schecksekunden geben, in denen nichts passiert, ansonsten muss immer etwas passieren; und wenn es der Wahnsinn selbst ist, den man sich als Schweiß panisch mit dem Taschentuch von der Stirn wischt.

Martin Brauer ist ein Josef Tura, wie man ihn braucht, wenn man einen allein mit seiner Schauspielerarroganz bewaffnet in die Höhle des Löwen schickt. Denn Gefahr ist für den Warschauer Untergrund im Verzug. Ein Spion der Gestapo, Professor Silewski (Özgür Platte), der sich in London das Vertrauen des polnischen Widerstands erschlichen hat, kommt samt Liste mit den Namen der gesamten polnischen Untergrundbewegung nach Warschau - diese Liste darf nie in die Hände von Gestapo-Gruppenführer Erhardt (Andreas Anke) geraten. Der Spion wird vom heimlichen Geliebten Maria Turas (klug ihre Laszivität als Schutzschild vor der Angst ausspielend: Jennifer Sabel), dem Fliegeroffizier Stanislaw Sobinsky (Flavius Hölzemann) liquidiert.

Denn er ist der Einzige, der hier mit einer Waffe umgehen kann. Nun muss Josef Tura anstelle des verräterischen Professors ins Gestapo-Hauptquartier. Da hat er dann Gelegenheit, seine lang geprobte Rolle aus »Gestapo« vor »echtem« Publikum aufzuführen. Was für eine Überforderung dessen, was man schauspielerischen Erfolg nennt!

Die Drehbühne arbeitet, im schnellen Wechsel sind wir im Gestapo-Hauptquartier und bei der Schauspielertruppe, die sich auf ihren großen Auftritt vorbereitet: den Besuch des »Führers« in Warschau. Der großartige Martin Brauer hält den Abend zusammen: ebenso hochfahrend-arrogant wie verquer-hilflos spielt er nicht allein um sein Überleben, sondern um das des polnischen Widerstands. Das alles klingt mit in dem markig hingeschlotterten Satz »Schön, endlich wieder Gestapo-Luft zu atmen!«, der aus dem geprobten »Gestapo«-Stück geklaut ist.

Vor Kalauern hat Steffi Kühnert ebenso wenig Angst wie Lubitsch. Natürlich kann sich Tura, obwohl innerlich vor Angst bebend, nicht enthalten, den Erschießungsurteile am Fließband unterzeichnenden Gruppenführer Erhardt zu fragen, ob er eigentlich von dem hervorragenden Schauspieler Josef Tura, der hier in Warschau für seinen Hamlet berühmt sei, wisse. Gewiss, er habe ihn sogar einmal auf der Bühne gesehen, bekommt er zur Antwort. Der habe das mit Hamlet gemacht, was die Nazis jetzt mit Polen machen!

Wie spielt man das? Immer auf der Grenze von Kunst und Kitsch, von echt und unecht - aber so rasant die vielen Facetten durcheinanderwirbelnd, das allein eines gewiss ist: Dies ist ein Narrenspiel im Dienste der Wahrheit. Dafür braucht man ein Ensemble, das sich hier hineinwirft wie in einen Malstrom - und dann gegen den Sog des Bösen anspielt, wie Antje Trautmann gleich in mehreren Rollen oder Jochen Fahr als Schauspieler Grünberg, der davon träumt, als Shylock - egal wo und wie - groß rauszukommen, oder auch Vincent Heppner als Sturmführer Schulz, der wie ein Stiefkind des Bösen zum Spielball Turas und Gruppenführer Erhardts wird.

Dies ist mit breitem Pinsel gemalt und doch auch nuanciert ausgespieltes Theater, szenisch virtuos komponiert, parodistisch-scharf und selbstironisch-zögerlich in einem. Und dann kommt tatsächlich der »Führer«, aber Schein und Sein vertragen sich bis zum Schluss nicht - und so gibt es eine lange Filmsequenz: Showdown in Warschau, in Schwerin - oder wo stand noch gleich die Volksbühne?

Nächste Vorstellungen: 8., 12. Mai

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