Richtungslos durch die Nacht
Der bulgarische Episodenfilm »Directions« erzählt von Verlorenen in einer verlorenen Gesellschaft
Wenn es um die Zustände im östlichen Osteuropa geht, ist meist die Rede vom »Transformationsprozess«, den die Staaten durchlaufen müssten und an dessen Ende »Freiheit«, »Demokratie« und »soziale Marktwirtschaft« stünden. Inzwischen ist es allerdings bald dreißig Jahre her, dass sich die Menschen dort gegen Stalinismus, Planwirtschaft und Machtmissbrauch erhoben haben, aber es will einfach nicht gut werden, glaubt man dem bulgarischen Regisseur Stephan Komandarev. Die Verheerungen der politisch-ökonomischen Schockwellen der Neunziger wirken bis heute nach; und dass der gnadenlose Raubtierkapitalismus der Gegenwart wirklich das ist, was sich die Leute erträumt haben, darf getrost bezweifelt werden. Längst ist jedoch eine Generation herangewachsen, die das Leben gar nicht mehr anders begreifen kann denn als einen täglichen Kampf aller gegen alle. Komandarev jedenfalls ist ernüchtert, und sein Film »Directions - Geschichten einer Nacht« ist ein Werk voller Wut.
Misho ist ein kleiner Bauunternehmer in Sofia und gezwungen, nebenbei Taxi zu fahren. Seine Hoffnung auf den geschäftlichen Durchbruch löst sich in Luft auf, als sich die geforderte Bestechungssumme, die er für den nötigen Kredit bezahlen soll, auf einmal verdoppelt. Hätte er sich mal nicht bei der Antikorruptionsbehörde über die Machenschaften der Bank beschwert. In einer verzweifelten Kurzschlusshandlung erschießt Misho seinen Bankberater und anschließend sich selbst. Diese Tat ist Ausgangspunkt und verbindendes Element für einen Episodenfilm, dessen Geschichten sich in verschiedenen Taxis in einer Sofioter Nacht abspielen.
Tatsächlich eignet sich das Taxi als Sujet und Handlungsort perfekt, um über die Befindlichkeit eines Landes zu erzählen, denn im Taxi trifft sich der Querschnitt der Gesellschaft, die unterschiedlichsten Schicksale prallen aufeinander, und die Charaktere müssen sich im Verlauf einer gemeinsamen Fahrt auf engstem Raum irgendwie zueinander verhalten und miteinander kommunizieren. Natürlich fällt einem Jim Jarmuschs »Night on Earth« ein, und diesem Vergleich kann »Directions« durchaus standhalten.
Die Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Gegenwart fällt dabei nicht eben schmeichelhaft aus für Bulgarien, das seit 2004 EU-Mitglied ist. Die Protagonisten des Films sind Verlorene in einer verlorenen Gesellschaft, die sich längst aller altmodischen Werte entledigt hat und in der sich jeder selbst der Nächste ist in dem verzweifelten Versuch, in Würde zu überleben oder schlicht irgendwie zu Geld zu kommen.
Da ist etwa der Arzt, der sich in die Klinik zu einer Herztransplantation fahren lässt, die seine letzte ist, da er am nächsten Tag das Land verlassen wird. Seine Emigration kommentiert er so: »Das ist keine Auswanderung - es ist eine Evakuierung aus einem Kriegsgebiet. Es gibt keinen Staat mehr, er ist tot.« Da ist die 17-jährige Prostituierte, die heimlich die Schule verlässt, um zu einem solventen Freier zu fahren; der Selbstmörder, der eigentlich Philosoph und Lehrer, aber zu arm und zu gedemütigt von diesem Leben ist; der Unternehmer, der wüst gegen die moralische Verkommenheit seines Heimatlandes schimpft, seine Karriere aber selbst nur der eigenen Schäbigkeit und Rücksichtslosigkeit verdankt - sie alle landen mit ihren Geschichten in diversen Taxen, deren Fahrer meist selbst sogenannte Gescheiterte sind und mit diesem Zweit- oder Drittjob ums Überleben kämpfen. Taxifahren gilt als eine Art bulgarische Sozialhilfe und ist meist das Erste, was man nach einem Jobverlust macht.
Das alles klingt ziemlich larmoyant, ist es aber keineswegs, vielmehr ist der Film höchst unterhaltsam und folgt einem hervorragenden Drehbuch. Jede Episode des Films besteht aus einem Take, der einmal geprobt und dann am Stück, ohne Schnitte, gedreht wurde. Solche bis zu zehn Minuten langen Szenen sind eine immense Herausforderung für die Schauspieler und das Team, aber das Ergebnis ist eine Authentizität und Spontaneität, die den Film wie dokumentarischen Realismus aussehen lassen und ihm eine hohe Glaubwürdigkeit verleihen. Damit reiht sich »Directions« ein in eine ganze Reihe von aktuellen sozial-realistischen Filmen aus der Region - besonders aus Polen und Rumänien -, die auf den großen Filmfestivals Furore machen und die Kenner schon seit Längerem von einer »neuen Welle« des osteuropäischen Filmschaffens sprechen lassen. Zur traurigen Wahrheit gehört allerdings auch, dass diese Filme im eigenen Land kaum wahrgenommen werden und ihr Dasein hauptsächlich auf ebendiesen Festivals fristen. Dabei könnten sie eine dringend notwendige Debatte darüber anstoßen, was von den einstigen Versprechen von Wohlstand und Good Governance geblieben ist. Aber vielleicht gibt es diese Debatte ja bereits und wir nehmen sie mit unserer West-Zentriertheit nur nicht wahr. Bulgarien jedenfalls, so kolportiert der Regisseur im Presseheft des Films einen beliebten Witz, sei ein Land voller Optimisten - da die Realisten und Pessimisten es längst verlassen haben.
»Directions - Geschichten einer Nacht«, Bulgarien 2017. Regie: Stephan Komandarev; Darsteller: Vassil Vassilev-Zuek, Ivan Barnev, Assen Blatechki. 103 Min. Kinostart: 10.5.
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