Erschütternde Lebensfülle

Wakayama Bokusui und die Kunst des Tanka

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 3 Min.

Weiße Schwäne/ seid ihr nicht traurig/ so zu schweben/ ungefärbt vom Blau des Himmels/ vom Blau des Meeres«. Die Verse dieses 1907 veröffentlichten Stimmungsbilds bilden eines der berühmtesten japanischen Tankas. Das Kurzgedicht stammt von Wakayama Bokusui (1885-1928), zu dessen Werk 15 Bände mit Tanka-Gedichten gehören. Die bei Manesse verlegte exquisite Auswahl von über 250 Fünfzeilern bietet einen Überblick über das Schaffen dieses bedeutenden Dichters. Ausgewählt und in ein unaufgeregtes, gleichwohl lyrisch gestimmtes Deutsch übertragen wurden die Texte von Eduard Klopfenstein, dem auch das schlüssige Nachwort zu verdanken ist.

Tanka bedeutet das »Kurze Lied«. Seine strenge Form leitet sich her aus den Anfängen japanischer Überlieferung und besteht aus 31 Moren (kurze Sprechtakte, die nicht unbedingt mit unseren Silben gleichgesetzt werden sollten), gegliedert in Verseinheiten von 5-7-5-7-7 Moren. Seit dem 9. Jahrhundert entwickelte sich Tanka zur dominanten Ausdrucksform höfischer Lyrik und durchlebte wie andere tradierte Regelwerke auch seine ästhetische Erstarrung. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurde es ausschließlich in elitären Zirkeln bis zur Belanglosigkeit gepflegt.

Wakayama Bokusui konnte bereits von einer Modernisierungsbewegung profitieren, die das Tanka vor der Jahrhundertwende aus seinem Korsett befreite. Seine Wiederbelebung erfolgte über eine radikale Wende zum biografischen Ich, das nicht mit dem lyrischen Ich westlicher Dichtung zu verwechseln ist. Wie selbstverständlich geht Bokusui von Erfahrungen in seiner unmittelbaren Umgebung und seinen persönlichen Gefühlswelten aus. Beziehungen zu den Eltern, zu Frau und Kindern, aber auch die prekäre materielle Lage werden ihm zu Anregungen. Insbesondere der Reigen von Gedichten um seine langjährige Liebesbeziehung zu Sonoda Saeko ergibt ein dramatisches Gesamtbild. Es sind Empfindungen des Augenblicks, aber wie in einem Kaleidoskop ordnen sich die lyrischen Splitter zu farbigen biografischen Mustern. Selbst die Qualen andauernder Trunksucht geraten ihm zu Dichtung: »Schwapp schwapp schwapp/ Sake plantscht im vollen Fass/ armes Herz/ allein/ schwankt im selben Takt« (1910).

Eine verständliche, hier aber durchaus makaber anmutende Befriedigung des Dichters, teilt sich in einem Tanka mit, das mit »Anarchistenprozess, Urteilsvollstreckung am 24.1.1911« annotiert ist: »Zum Tod verurteilt/ las - so höre ich - ein Angeklagter/ am Tag der Hinrichtung/ in meiner Tanka-Sammlung ›Abschied‹«.

Wakayama Bokusui überführte das Tanka in eine Dimension, in der greifbarer Raum und konkrete Zeit poetisch aufgelöst werden. Der Augenblick wird erfasst, ist also lesend zu vergegenwärtigen. Biografische Bezüge erhalten durch die reduzierte Form der Aussage exemplarischen Charakter. Der Resonanzraum des Lesers weitet sich insbesondere dann, wenn es um Naturerscheinungen, Landschaften oder jahreszeitliche Phänomene geht.

Mit der spezifischen Tradition des Kurzgedichts leistet die japanische Literatur einen ebenso originären wie qualitativ herausragenden Beitrag zur Weltliteratur. Und wie so oft erschließt sich die Schönheit dieser Dichtung erst bei wiederholtem Lesen, werden die vom Blau des Himmels ungefärbten weißen Schwäne zum Sinnbild erschütternder Lebensfülle.

Wakayama Bokusui: In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter. Moderne Tanka. Mit fünf meisterhaften Kalligraphien des Autors. Aus dem Japanischen und mit einem Nachwort von Eduard Klopfenstein. Manesse Verlag, 145 S., geb., 16 €.

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