Es steckt ein Lied in allen Dingen
Barbara Thalheim ist zu Gast bei Michèle Bernard in Lyon
Protz-Klotz«, denkt die Berlinerin beim Anblick des monströsen Brunnens auf der »Place des Terreaux« in Lyon, der heimlichen Hauptstadt Frankreichs. Zwischen dem Hôtel de Ville und dem Musée des Beaux Arts bäumen sich vier Wasser speiende Pferde mit dampfenden Nüstern auf, deren Zügel von einer barbusigen Schönen eher lasch als straff gehalten werden. »Die Flüsse fließen zum Ozean«, heißt der Brunnen, der eigentlich für Bordeaux am Ozean gedacht war, die Stadt jedoch zu teuer kam. Der Skulpteur Fréderic Auguste Bartholdi war bereits ein reicher Mann, als sein Brunnen in Lyon zu sprudeln begann. Mit seinem Design der New Yorker Freiheitsstatue war er auf eine Goldmine gestoßen, denn über den Globus verteilt stehen heute Tausende Miniaturfreiheitsstatuen auf ihren Sockeln.
Lyon ist eine feine Dame unter den europäischen Großstädten. Ich unterquere den Bahnhof auf den Straßenbahnschienen in Richtung Innenstadt und werde im Tunnel von Fußballfans in eine Trikolore eingewickelt und zu einem Veitstanz zur gegrölten Marseillaise genötigt. Frankreich hat gerade zwei zu eins gegen Australien gewonnen. Als die Männer mitkriegen, dass ich Deutsche bin, lachen sie sich kaputt. Die Fahne darf ich behalten.
In der historischen Lyoner »Brasserie Georges« hängt ein Werbeslogan: Bonne Bière et bonne Chère (gutes Bier, gutes Fleisch). Und wirklich, das Essen ist exzellent! In einem Speisesaal von der Dimension einer großstädtischen Opera gibt es immer auch Geburtstagsgäste. Die Brasserie leistet sich einen Musiker, der stand by ist und außer »Happy birthday« alle möglichen Musikwünsche der Jubilare erfüllt, wobei das ganze Restaurant beim ersten Ton die Bestecke sinken lässt, mitjohlt, klatscht, Glückwünsche ruft. Ein Prozedere, das sich alle 20, 30 Minuten wiederholt. Ein wirklich spezieller Restaurantbesuch.
Mir gegenüber sitzt die Lyoner Musikerin, Poetin, Sängerin, Michèle Bernard in eben dieser Brasserie. 1982 brachte mir mein Vater von einer Frankreichreise ihre dritte Schallplatte »Le bar du grand désir« (Bar der großen Begierde) mit. Er meinte eine Ähnlichkeit in unserem Œuvre ausgemacht zu haben. Die Platte stand über Jahre bei mir im Regal. Wirklich gehört habe ich sie erst Mitte der Neunziger, als die ersten französischen Worte in meinem Kopf Platz zu nehmen bereit waren und als ich Dank französischer Dolmetscherfreundinnen auch bald hinter die Wörter, tief in ihren Sinn blicken durfte. Seitdem sind Michèles Lieder für mich so etwas wie Lebens-Mittel.
Wer ist diese Frau, die ihre erste Platte mit 20, 1967, veröffentlichte, in ihrer Oberschulzeit Dramatik-, Malerei- und Literatur-Kurse belegte, die früh begann, Theaterstücke für Kinder zu schreiben, in denen sie mitspielte, die heute sagt: »Mit dem Theater hab ich mein Leben ge/erträumt.« Oder auch: »Das Chanson ist eine Art Jungbrunnen, den ich vermitteln möchte.« Ihre permanente Suche nach künstlerischen Verbindungen der Genres Dramatik/Theater und Lied hat etwas Brecht’sches und ist in keiner ihrer Produktionen zu übersehen. So wie in dem Programm »Un p’tit rêve très court« (Ein kleiner kurzer Traum), das sie gemeinsam mit der Schauspielerin Monique Brun erarbeitete, mit dem die beiden Künstlerinnen zum diesjährigen Theaterfestival nach Avignon eingeladen sind.
»Der kleine kurze Traum« ist der nach einer friedlicheren Welt, unterfüttert mit Texten und Liedern, die das Publikum mitunter das Atmen vergessen lassen. Ich sah das Programm jetzt in Lyon und empfand unabhängig vom Inhalt die Addition zweier starker Bühnenfrauen, die in keinem Moment des Abends in Konkurrenz agieren, als zusätzlichen Gewinn des Abends.
Mein Freund Christoph Stählin (1942 - 2015) hätte seine Rezension wohl so begonnen: »Ein Magnet hat seine Anziehungskraft von der Natur, ein Künstler muss sie sich erarbeiten.« Michèles aktuelle CD »Tout’ maniéres« (auf alle Fälle) hat - wie viele vorherige - den Grand Prix der Akademie Charles Cros erhalten. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre anrührend, anmutig, scharf blickenden Lieder, die die Dringlichkeit zu lieben und den verkehrten Lauf der Welt beschwören, Marge-Kunst sind.
Und eben darum eine Absage an die Resignation! Aber seit der Zeit der Troubadoure unterliegen gesungenen Botschaften über das Leben einer nicht beeinflussbaren Konjunktur. Michèle weiß das natürlich.
Seit wir uns kennen, habe ich immer wieder Lieder von Michèle ins Deutsche übertragen. So zum Beispiel den Song »Ich klicke«. Die erste Strophe geht so:
Ich klicke, damit die Wale nicht mehr in unserer Schminke landen.
Ich klicke, genug Plastikmüll in Tierbäuchen und Ozeanen.
Ich klicke, damit in hundert Jahren noch irgendwo der Eisbär friert.
Ich klicke, damit in Pakistan kein Mädchen mehr durch Säure sein Gesicht verliert.
(YouTube: Michèle Bernard, Je clique)
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