Einladung zum Lohnbetrug
Wie Unternehmen den Mindestlohn aushebeln und der Staat dabei zuschaut
Eigentlich ist der Mindestlohn eine gesetzlich festgelegte Untergrenze. Doch fast zwei Millionen Menschen werden nach Angaben des DGB noch um das Mindeste betrogen. Die Masse dieser Verstöße wird nicht durch staatliche Kontrolleure aufgedeckt und geahndet. Sie sind durch Befragungen von Beschäftigten für das sozioökonomische Panel bekannt. Der Betrug schadet den Beschäftigten, aber auch dem Staat gehen dadurch Sozialbeiträge und Steuern verloren. Doch wer um den Mindestlohn prellt, muss bis heute kaum fürchten, dabei erwischt zu werden. Vor allem in kleineren Betrieben, im Handel und im Gastgewerbe wird am häufigsten gegen das Gesetz verstoßen.
Dreh- und Angelpunkt sind die Arbeitszeiten, die künstlich klein gerechnet werden. Die bisherigen Vorgaben lassen dazu viel Spielraum. Gewerkschaften haben eine lange Liste, wie Arbeitgeber den Mindestlohn umgehen: Da werden im Fernbusverkehr Wartezeiten nicht bezahlt oder bei der Beförderung von Schülerinnen und Schülern mit Kleinbussen nur die Zeiten als Arbeitszeit gerechnet, in denen Fahrgäste im Bus sitzen. Die Fahrt zur ersten Abholung oder nach dem letzten Stopp wird nicht bezahlt, ebenso wie Tanken oder Fahrzeugpflege. Ähnliche »Vorbereitungsarbeiten« gibt es auch in anderen Branchen, berichten Gewerkschaften. So bekommen Beschäftigte in Supermärkten mancherorts nur die Zeit vergütet, in der sie an der Kasse sitzen, nicht jedoch das »vorgelagerte« Regale einräumen.
Auch unrealistisch hohe Leistungsvorgaben, die die Beschäftigten nur durch Mehrarbeit erfüllen können, sind ein Mittel, um den Mindestlohn auszuhebeln. Oftmals gibt es weder Schichtpläne noch andere Aufzeichnungen über den Arbeitstag der Beschäftigten, bemängeln Arbeitsmarktforscher, die die Umsetzung des Mindestlohns untersucht haben. Vor diesem Hintergrund müsse die Debatte um die Dokumentationspflichten für die Arbeitszeit beendet werden, forderte Stefan Körzell aus dem DGB-Bundesvorstand. Der DGB schlägt eine tagesaktuelle Aufzeichnung vor statt einer zusammenfassenden am Ende einer Arbeitswoche. Zudem sollten die Unterlagen vor Ort aufbewahrt werden müssen, damit sie bei einer Kontrolle umgehend eingesehen werden können. Denn sonst können die Aufzeichnungen im Nachhinein manipuliert werden.
Erstmals waren Dokumentationspflichten mit dem Mindestlohngesetz eingeführt worden. Arbeitgeber liefen dagegen Sturm und klagen bis heute über zu viel Bürokratie. Doch die Erfahrungen zeigen, dass es ohne umfassenden Nachweis der Arbeitszeiten nicht ansatzweise möglich ist, die Einhaltung der Mindestlöhne zu kontrollieren.
Ohnehin ist bislang des Entdeckungsrisiko vergleichsweise gering. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) beim Zoll konzentriert sich aus Ressourcenmangel seit einiger Zeit auf »die großen Fische« und verzichtet dafür tendenziell auf Überraschungsbesuche bei kleineren Betrieben - die aber am häufigsten die Löhne drücken. Im Jahr 2017 wurden wegen Verstößen gegen den gesetzlichen Mindestlohn 2521 Ermittlungsverfahren eingeleitet, die Hälfte endete mit Bußgeldbescheiden oder Verwarnungen, geht aus der Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der LINKEN hervor. Die Sanktionen summierten sich auf insgesamt 4,2 Millionen Euro. Das lässt nicht nur das Ausmaß des Lohnbetrugs erahnen, sondern auch, was möglich wäre, könnten die Kontrollen intensiviert werden. Dafür bräuchte die FKS mindestens 10 000 Stellen. Doch gegenwärtig hat sie etwas mehr als 7200 im Plan, von denen zahlreiche nicht besetzt sind.
Vor allem müssen Arbeitgeber Nachzahlungen an Beschäftigte und Sozialkassen kaum fürchten. Nach dem Mindestlohngesetz können Ansprüche zwar bis zu drei Jahre später gerichtlich geltend gemacht werden. Dies scheitert aber regelmäßig an den fehlenden Nachweisen und den hohen Hürden, die Gerichtsverfahren gerade für Menschen mit Niedriglöhnen bedeuten. Ein Verbandsklagerecht würde hier helfen. Denn dann könnten Gewerkschaften die Rechte von geprellten Beschäftigten kollektiv gerichtlich durchsetzen.
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