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»Flüchtlinge? Ja, die gehen hier spazieren«

Ein Besuch an der deutsch-österreichischen Grenze

  • Johanna Treblin, Passau
  • Lesedauer: 7 Min.
Maria Pitscheneder
Maria Pitscheneder

Die Häuser am Rande der Innstadt haben große Glasfronten, die über den Inn ins Zentrum von Passau blicken lassen. Dahinter beginnt Österreich. Steil nach oben führt die Straße an Feldern entlang. Der Mais ist noch nicht ausgewachsen, der Weizen weht im Wind. Es riecht nach Kuhdung. Prompt blicken links der Straße Milchkühe aus einem Stalltor. Auf dem Hang daneben steht eine alte Frau mit einem Rechen, der länger ist als sie groß. Maria Pitscheneder wohnt nur einen Kilometer von Passau entfernt. Freilich fahre sie da auch manchmal hin, sagt sie. Und wenn die Grenze dort dann wieder kontrolliert würde? »Naa«, sagt sie, langgezogen, »das hatten wir doch früher auch schon«. Damals, erzählt sie, gab es noch Schleuser, weil viele Waren in Deutschland günstiger waren. Heute hingegen kämen die Passauer hinüber nach Österreich zum Tanken, weil hier das Benzin billiger sei. Ob sie auch mal Flüchtlinge gesehen habe? »Ja, die gehen hier spazieren.«

Rund 90 Grenzübergänge gibt es zwischen Österreich und Deutschland - alle in Bayern. Gezählt werden Straßen und Schienen. Dazwischen liegen Wiesen, Felder, Wald, der Inn, die Donau. Drei Grenzübergänge werden seit 2015 von der Bundespolizei ständig kontrolliert. Alle drei liegen an Autobahnen. Am 1. Juli will Bayern die vor 20 Jahren eingestellte landeseigene Grenzpolizei wieder einführen, um den Grenzverkehr zwischen Österreich und dem südlichsten deutschen Bundesland wieder stärker kontrollieren zu können.

Zeitlich fällt das mit einem Vorhaben des Bundesinnenministers Horst Seehofer (CSU) zusammen: Er will ab Juli Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Staat registriert wurden, direkt an der Grenze zurückweisen lassen. Seehofer hat damit einen Streit mit der Schwesterpartei CDU ausgelöst. Kanzlerin Angela Merkel will lieber eine europäische Lösung. Wenn diese auf dem EU-Gipfel, der am Donnerstag beginnt, nicht gefunden wird, droht ein Alleingang Seehofers.

Eine der drei bisherigen Kontrollstellen liegt in der Nähe von Passau. Die hiesigen Grünen haben schon mehrfach die Abschaffung dieser »sinnfreien Grenzkontrollen« gefordert. »Sinnfrei«, weil die Bundespolizei nicht an der Grenze zu Österreich steht, sondern mehrere Kilometer im Landesinnern. Der Polizei zufolge, weil sich der ehemalige Rastplatz Rottal Ost an der Autobahn 3 am besten dafür eignet. Passauer hingegen sagen, die Österreicher hätten sich gegen die Einführung der Grenzkontrolle gewehrt, weil sie weder den Rückstau noch die Abgase haben wollten. Der jetzige Standort hat den Nebeneffekt, dass sich die Kontrolle ganz einfach umfahren lässt: Indem man kurz vorher auf die A 12 abbiegt - oder die Landstraße nimmt.

Am Dienstagvormittag stockt der Verkehr in Richtung Passau trotzdem. Schon weit vor dem ehemaligen Rastplatz sind nur noch 60 Kilometer pro Stunde Höchstgeschwindigkeit erlaubt. Hauptsächlich Lkw sind hier unterwegs, viele mit ausländischem Kennzeichen. An der Vorkontrolle ist Schritttempo angesagt. Die Polizisten schauen sich die Papiere an und entscheiden, wer weiterfahren darf, und wen die Kollegen knappe 100 Meter weiter genauer überprüfen sollen. Viele sind das an diesem Vormittag nicht. In einer großen Zeltdurchfahrt steht ein blauer Kleintransporter mit Anhänger. Ein Reisebus biegt gerade auf den Rastplatz ein. Zwei nackte Füße lehnen an einer der Scheiben. Der Bus ist zu hoch für das Zelt, er fährt daran vorbei und bleibt auf dem Parkplatz daneben stehen.

102 »unerlaubt eingereiste Personen« stellte die Bundespolizei nach eigenen Angaben hier im Mai fest. 862 waren es in ganz Bayern. 418 von ihnen wurden zurückgewiesen - fast 50 Prozent. Gründe sind fehlende gültige Einreisedokumente oder mangelnde Gründe, trotzdem einzureisen. Wer einen Asylantrag stellen will, wird zunächst auf die Dienststelle in Passau gebracht, wo wenn notwendig ein Dolmetscher hinzugeholt wird.

Eingeführt wurden die Kontrollen, nachdem vor drei Jahren die Geflüchtetenzahlen in die Höhe schnellten. Zügeweise kamen Menschen, vor allem Syrer, über den Balkan und Österreich schließlich am Münchener Hauptbahnhof an. Wenn sie Passau passierten, reichte der Ilsanker Josef, wie er sich vorstellt, Wasser und Essen durch die Zugfenster hinein. Später endete die Fahrt für viele Flüchtende bereits in Passau. Rund 1000 Menschen kamen hier pro Tag an, zu Hochzeiten sogar mehr als 4000. Josef Ilsanker organisierte Infrastruktur vor Ort: Versorgungszelte, Helfer. Hunderte Menschen engagierten sich hier ehrenamtlich. Für Ilsanker wenig überraschend. »Durch die Hochwasser sind wir hier in Passau krisenerprobt.«

»Jetzt ist die Route dicht - weil der dreckige Deal mit Erdogan funktioniert«, sagt Ilsanker, heute Vorsitzender der LINKEN in Passau. Längst ist es nicht mehr notwendig, Essen oder Decken an frierende Menschen auszugeben. Die Helfer kümmern sich heute um etwas anderes: die Integration. Doch auch das ist nicht leicht: Es fehlen auch hier Wohnungen. Und die niederbayrische Regierung erschwert es vor allem Afghanen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten.

Seehofers Pläne für die Grenze hält Ilsanker für »Schindluder«, der nur Wahlkampfzwecken diene. Im Herbst ist in Bayern Landtagswahl. Wie viele andere glaubt auch der LINKEN-Politiker, dass die CSU die Wähler der AfD für sich gewinnen will. Aktuelle Umfrageergebnisse, die nahelegen, dass die Strategie nicht aufgeht, kommentiert Ilsanker mit dem Zitat eines CSU-Politikers: »Man soll nie versuchen, das Stinktier zu überstinken.« Wer die grüne Grenze effektiv kontrollieren wolle, »der muss scho a Maua baue«.

Auch Christian Domes hält Seehofers neueste Pläne für »Schmarrn«. Er ist dritter Bürgermeister in Salzweg, einem kleinen Ort in der Nähe von Passau. Dort sind in einem ehemaligen Gasthaus rund 75 Flüchtlinge untergebracht. Anfangs habe das zu Unmut unter den Nachbarn geführt. »Aber vor der Eröffnung haben wir zu einem Tag der offenen Tür geladen. Und als sie gesehen haben, dass die Menschen hier nicht luxuriös untergebracht werden, sondern Metallgitterbetten und Metallspinds haben, waren sie beruhigt.« Doch jetzt werde die Stimmung wieder schlechter, erzählt Domes. »Seehofer und Söder, die befeuern Ressentiments.« Einige im Ort, die den Bundesinnenminister oder den bayrischen Ministerpräsident reden hörten, ließen sich verleiten zu denken: »Ach stimmt, wir schaffen das gar nicht.«

Bis zu einem halben Jahr sollen die Flüchtlinge in der Gemeinschaftsunterkunft in Salzweg bleiben. Familien teilen sich hier ein Zimmer ohne eigene Küche. Doch einige von ihnen leben schon seit drei oder vier Jahren hier, erzählt Domes, der zum Helferkreis gehört, der die Bewohner unterstützt. Sie finden keine Wohnung, auch, weil manche Vermieter nicht an Flüchtlinge vermieten wollen. Die Gemeinde will nun neue Sozialwohnungen bauen - für alle, die eine benötigen.

Flüchtlinge, die keine Wohnung finden oder einen Ausbildungsplatz suchen, wenden sich an Ludwig Schmidlehner. Der Rentner leitet die »Integrationshilfe Passau«. Zweimal pro Woche bietet er einen Vormittag lang eine offene Beratung an, sieben, acht Menschen kommen jedes Mal zu ihm. Will jemand vertraulich mit Schmidlehner sprechen, warten die anderen draußen. Wenn es geht, sitzen sie aber alle zusammen an einem Tisch. So entstehen gleich neue Kontakte, man tauscht sich über die jeweiligen Schwierigkeiten und Erfolge aus. Alle sprechen Deutsch. Bei Bedarf kann ein Übersetzer hinzugeholt werden. An diesem Dienstag sind zwei Afghanen gekommen, außerdem zwei Frauen und ein Mann aus Irak.

Für Ischaq Schinwari hat Schmidlehner gerade ein Empfehlungsschreiben an die Regierung von Niederbayern aufgesetzt. Schinwari lebt seit vier Jahren in Deutschland, nach Abschluss der Berufsschule möchte der 20-Jährige jetzt eine Ausbildung machen. Ein Unternehmer hat bereits Interesse signalisiert, er braucht Menschen für die Logistik. Doch Schinwari ist Afghane, und weil sein Herkunftsland als sicher gilt, hat er keine gute Bleibeperspektive und bekommt keine Ausbildungsgenehmigung.

»Ich liebe Deutschland«, sagt Ischaq Schinwari und der junge Afghane legt eine Hand auf sein Herz. »Wenn ich sterbe, dann sterbe ich in Deutschland.« Nach Afghanistan könne er nicht zurück, er sei dort nicht sicher, sein Onkel sei Mitglied der Taliban. Er will in Deutschland bleiben und sich hier eine Existenz aufbauen. »Ich weiß nicht, warum die ein Spiel mit mir spielen«, sagt Schinwari über die Behörden. »Meine Haare sind schon grau geworden.« Er nimmt seine Kappe ab, die er mit dem Schirm nach hinten trägt, und tatsächlich: Es sind vier oder fünf graue Haare zu erkennen.

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