- Kultur
- Leistungssport
Angelopoulos statt Autowerbung
Abseits! Die Feuilleton-WM-Kolumne
Von Muskelkraft und Fitness war wie immer viel die Rede, davon, dass die »Laufstärke optimiert« werden und die Ausdauer stimmen müsse. Spezialnahrung, Gesundheitschecks, Lungenleistungstests, Oberschenkelmuskeltrainings, Vitaminspritzen, Dingsbums-Screenings. Der deutsche Fußballnationalspieler wurde - ein Fehler, der nicht zum ersten Mal passiert, ich weiß, wovon ich rede - , begriffen als reiner Körper, als dressierter Ballbeherrschungsautomat, als stumpfköpfiger Leistungslarry. Die Deutschen sind seit jeher fasziniert von Leistung, Stärke, Technik, Taktik, Organisation: Mehr ist mehr, weniger ist weniger, von hinten nach vorn, von unten nach oben, zackzack und linkszwodreivier. Anders, so glaubt man, können sie nicht denken, anderes lässt ihr Kopf nicht gelten.
Und so hat man den deutschen Fußballer auch heuer in die Spiele geschickt: als sei er eine seelen- und hirnlose Kampfmaschine, zusammengesetzt nur aus »unbeugsamem« bzw. »eisernem Siegeswillen«, Muskelfasern, Knochen und Sehnen (zugegeben: nun ja, in gewisser Weise ist er das auch (Briegel, Kohler, Vogts).
Aber hat auch mal jemand ans »Mentale« (Boris Becker) gedacht? Selbst jetzt, mehrere Tage nach dem frühen Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft, hat noch kein Sportfex, kein Fußballanalysefritze und kein TV-Kommentarheini einen Gedanken daran verschwendet, dass der deutsche Fußballer möglicherweise intellektuell unterfordert war, dass ihm die Ödnis zwischen seinen Ohren wie ein ununterbrochenes Dröhnen vorkam. Dass man es versäumt haben könnte, die gähnende Leere im Kopf der Spieler (»Ich hatte vom Feeling her ein gutes Gefühl«, Andreas Möller) mit Anregendem, Originellem, Geistreichem zu füllen, mit dem sich das ausgemergelte Spielergehirn beschäftigen und an dem es heruminterpretieren kann. Dass man dem ganz auf seine faden Turnübungen fokussierten Spieler vor allem geistige Nahrung vorenthalten hat, dass man seine Synapsen hat regelrecht austrocknen und sein Sprachzentrum, seine meist bereits in langen Jahren des sturen Liegestützemachens und sinnlosen Auf-und-ab-Hopsens vollständig versickerte Leidenschaft für Philosophie, Literatur und Kunst, seine Leselust bewusst hat verkümmern lassen.
Mens sana in corpore sano, mit einem gesunden Körper allein ist es nicht getan, es darf auch im Gehirn nicht Funkstille herrschen, sagt der Lateiner.
Wann hat man denn einem der Spieler mal etwas anderes zum Lesen in die Hand gegeben als eine Speisekarte, die Bundesligatabelle, »Sport-Bild« oder eine andere Analphabeten-Illustrierte?
Hat der Trainer geprüft, was sich die Spieler nach Feierabend im WM-Quartier auf ihren LCD-Bildschirmen ansehen? Immer nur Autowerbung und »Bauer sucht Frau« oder auch mal eine Filmtrilogie von Michael Haneke oder Theo Angelopoulos? Hat niemand vom Betreuerteam im Stillen erahnen oder erspüren können, wie sehr es den einen oder anderen Spieler nach dem stundenlangen erzwungenen Starren auf die Bandenwerbung danach dürstet, auch mal wieder einen kurzen Blick auf Malewitschs schwarzes Quadrat werfen zu können? Einfach mal so, als kurze Erholung vom kräftezehrenden Training? Wer wäre denn auf die Idee gekommen, einem der Spieler mal einen Gedichtband von Emily Dickinson zu schenken und ihm aufzutragen, ihn in stiller Andacht zu lesen und sich hernach Gedanken über die Stellung des Gedankenstrichs im Werk der Lyrikerin zu machen? Gab es ein einziges Mal nur den Versuch - wie beispielsweise Lehrer es in Schulklassen tun - , die Smartphones der Mannschaftsangehörigen einzusammeln und ihnen mit einem aufmunternden Nicken Hegels »Phänomenologie des Geistes« bzw. Heideggers »Sein und Zeit« in die Hand zu drücken? Natürlich nicht. Jetzt ist es zu spät. Deutschland ist raus.
Alle Kolumnen unter: dasND.de/abseits
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.