Mit gerecktem Mittelfinger

Abseits! Die Feuilleton-WM-Kolumne

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 3 Min.

Bei jeder Welt- und Europameisterschaft sind die traurigsten Momente nicht jene, in denen das Lieblingsteam gerade ausgeschieden ist. Am schlimmsten sind auch nicht die verzweifelten Versuche der Kommentatoren, dem Gebolze satter Millionäre mithilfe ausgefuchster Fließbandphrasen aus der Stanzenfabrik des Sportjournalismus die Aura eines Spektakels für die Geschichtsbücher zu verleihen. Nein, tragisch wird es, wenn sich die Kameras den Zuschauertribünen zuwenden. Sichtbar werden dann von Klatschpappen bis zur Gesichtsschminke alle optischen Codes der mit überteuerten Tickets in die Eventarenen gepilgerten Modefans. Während des Spiels erschallen dann und wann einfallslose Sprechchöre, und in der Halbzeitpause dröhnt unnachgiebiger Popschmonzes aus den Lautsprechern.

Wer sich ausschließlich mit der Erfahrung als Fernsehzuschauer eines Nationenturniers doch einmal auf die Stehplatztribüne eines unterklassigen Traditionsvereins begibt, der könnte erschrecken, wenn er all die gen Spielfeld brüllenden Leute erblickt. Bestätigt sieht der Unerfahrene - sofern er einen sozial- oder geisteswissenschaftlichen Universitätsabschluss im Lebenslauf hat und in einem Trendbezirk einer Metropole lebt - dann meist sein Bild vom saufenden Proll, der angestaute Aggressionen mit Bierschaum am Schnauzer an Unbeteiligten auslässt. Dabei sind Stadionpöbler selten verbitterte Hausmeistertypen, die im Berufsleben am liebsten Schulkinder mit Glasflaschen bewerfen. Tatsächlich verwandeln sie sich nach dem Spiel sofort wieder in ausgeglichene Menschen, die über den nächsten All-inclusive-Urlaub oder zuletzt gelesene Bücher parlieren. Der während des Spiels in Plastikbechern verkaufte Quell ist in aller Regel nicht etwa, wie mancher Stadionneuling denkt, der Treibstoff des Gewaltmobs, sondern er lässt einen bei Torerfolgen wildfremde Menschen umarmen, obwohl deren stechender Bieratem selbst Hartgesottene fast ums Bewusstsein bringt.

Darum ist es ja so schrecklich, dass immer mehr Verbände auch im Vereinsfußball ein Alkoholverbot in Stadien verhängen: Im richtigen Rahmen kann Bier sogar Frieden stiften. Das gilt selbst dann, wenn das Gesöff bei Massenveranstaltungen wie einem Zweitligaspiel lieblos mit einer Zapfpistole in die Becher geschossen wird, als habe jemand einen Tankdeckel geöffnet. Wenn der Nebenmann mal wieder nervt, reicht es völlig, ihm in der Pause einen Zehner in die Fankutte zu stecken und ihn um zwei weitere Bier zu bitten - wohl wissend, dass die Warteschlange am Getränkestand nach der ersten Hälfte stets deutlich länger ist als die vor der einzigen Großraumdisko der Region am Freitagabend.

Bevor wiederum der seit Jahrzehnten in der Kurve stehende Senior ausrastet, weil die da unten schon wieder einmal über die eigenen Beine stolpern, nuckelt er am beruhigenden Bölkstoff. Umgekehrt sorgt nichts anderes als ein kühles Bier dafür, dass selbiger Senior schnell genug vom Zetern zum Zelebrieren wechselt, wenn den Flachpfeifen auf dem Platz plötzlich ein sauberer Spielzug gelingt.

In Zeiten, da gefühlt jeder Akademiker von »Expected Goals«, »liquidem Fußball« und »Packing« faselt, da tut es ausnehmend wohl, im Block manchmal neben Rentnern zu stehen, die bei jedem Ballverlust gegenüber dem in Rufweite herumstehenden Cheftrainer konkrete Kollektivstrafen für die eigene Elf anordnen und die häufiger »Schiri, du Sau!« rufen, als sie ihren Frauen eine gute Nacht wünschen. In der Bahn, im Flugzeug und am Postschalter mag die Lächle-oder-stirb-Philosophie für die Arbeitenden zur Plackerei geworden sein, im Stadion aber gibt es das, was seelenlose Personalabteilungen ihren Mitarbeitern im flexiblen Kapitalismus so gern vorzutäuschen befehlen: authentische Emotionen.

Für die übertragenden TV-Sender, deren ideale Tribüne auch beim Vereinssport mittlerweile aussieht wie bei einer WM, hat diese Fußballkultur einen wundersam geschäftsschädigenden Nebeneffekt: Im Fritz-Walter-Stadion in Kaiserslautern oder an der Alten Försterei in Berlin-Köpenick finden die Medienmacher für ihre Pausenbilder noch immer keine neckisch winkenden Normschönheiten oder süß herausgeputzten Säuglinge, sondern bestenfalls ob des übermäßigen Alkoholkonsums auf dem Betonboden eingenickte Männer oder mit gerecktem Mittelfinger fanatisch brüllende Grundschüler.

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