Glanz und Elend des Charismatikers

Vor 150 Jahren wurde Stefan George geboren - und mit ihm das »Geheime Deutschland«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Er war der Kopf jenes Kreises, der selbstverständlich nach ihm benannt war: Stefan George. Nicht nur ein Dichter, für seine Gefolgsleute vor allem der »Meister«, ein Übervater und Ersatzgott, der ganz allein bestimmte: etwa darüber, wer aus seinem Kreis wen wann heiraten durfte und wer worüber schreiben sollte. Ein Sektenführertyp? Vielleicht, aber auch der Inspirator des »Geheimen Deutschland«, aus dem dann der Hitler-Attentäter Claus Graf Stauffenberg hervorging.

Der »Meister«? Natürlich drängen sich hier Assoziationen auf: Bulgakows »Der Meister und Margarita« vor allem. Jemand, der über magische Kräfte verfügt, eine mephistophelische Figur, die eine falsche Ordnung mit der Kraft des negativen Prinzips (Geist!) zerstört. Der Dichter als Teufelsfigur, Gefolgsleute um sich sammelnd, sämtlich begabte junge Männer, niemals Frauen.

Worüber also reden an Georges 150. Geburtstag? Seine Gedichte werden kaum noch gelesen, vielleicht, weil sie etwas befremdlich Überanstrengtes im Ton haben, was gewiss mit der künstlerischen Heimat Georges im französischen Symbolismus Mallarmés zu tun hat. Wie Rilke (dem dies besser gelang), schrieb auch George einen Teil seiner Gedichte auf Französisch - seine deutschen Gedichte wirkten bereits auf Zeitgenossen so, als dichte hier jemand in einer fremden Sprache.

Gemessen an Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn, Georg Trakl, Georg Heym, Else Lasker-Schüler oder Bertolt Brecht wirkt George steif, fast schon staubig. Und kann man sich diese Autoren - von Brecht abgesehen, der ebenfalls Schüler um sich sammelte - anders vorstellen als notorisch solitäre Wortarbeiter?

Der Dichter George also versinkt in der Zeit, nur wenige seiner Texte widerstehen der Historisierung, darunter das Gedicht »Nietzsche«, in dem es heißt: »Erschufst du götter nur um sie zu stürzen / Nie einer rast und eines baues froh? / Du hast das nächste in dir selbst getötet / um neu begehrend dann ihm nachzuzittern / Und aufzuschrein im schmerz der einsamkeit.« Hier zeigt sich, dass lyrische Wirkung bei George aus forcierter geistiger Haltung, einer weltanschaulichen Mission, aus einem dominanten Deutungswillen kommt. Diese resultiert - und zielt auch wieder - auf ein geheimes Weltwissen, das nur die Eingeweihten teilen. Dichtung ist für George Geheimsprache im Kreis der Gefolgsleute! Das markiert dann auch die Grenze seiner Wirksamkeit aus heutiger Sicht, ganz anders als etwa Gottfried Benn mit seiner Feier der »Ausdruckswelt«, in der es um »faszinierend montierte Worte« geht und nicht um vorsätzlich chiffrierte Botschaften. Auf die sich selbst gestellte Frage, »Warum drücken wir etwas aus?«, antwortet Benn im Gedicht »Satzbau« bündig: »Überwältigend unbeantwortbar!« An weltanschauliche Wirkungen von Dichtung glaubte er nicht und wenn er sie doch einmal - auch bei sich selbst - im Nachhinein bemerkte, wusste er genau, dass es diese waren, die ihm die Form ruiniert hatten.

Insofern steht George für ein künstlerisches Selbstverständnis, das von einem starken pädagogischen Sendungsbewusstsein getragen wird, das bis in religiöse Sphären reicht, etwas Messianisches in sich birgt. Mein Wort (und ausschließlich meines) wird euch erlösen! Darunter macht es George, der moderne Mystiker, nicht.

Haben wir also einen in Hybris befangene Manipulator vor uns, den Verführer einer nach Seele suchenden idealistischen Jugend? Jetzt wird es heikel, die George-Kritik gleitet hier selbst rapide ab ins Ideologische. Es gab in letzter Zeit einige solcher kurzschlüssigen Urteile, die darauf fokussiert waren, dass die dichterische Selbstinszenierung Georges nicht mehr gewesen sei, als der weihevolle Anstrich von erotischem Interesse an jungen Männern. Geist und Dichtung als Mittel zur Verführung? Das scheint unter Künstlern gewiss nicht ungewöhnlich, fasst jedoch das Besondere Georges keineswegs: sein Charisma, das ihn dann tatsächlich zu einem Leitbild eines aristokratischen Selbstverständnisses machte, das gegen alles Niedrige, auch die NS-Ideologie (wie im Falle Stauffenbergs) immunisieren sollte. Will man es ins populäre Bild bringen, dann handelt sich beim George-Kreis um den forciert artifiziellen Gegensatz zum Kreis der Brechtianer - diesem ähnlicher, als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Auch Brecht trägt eine Mission in sich, die die Grenzen der Kunst sprengt, auch dieser weiß sich höchstpersönlich auserwählt.

George-Biographien sind immer zugleich Kreis-Biographien. In diesem Dichter steckt ein selbsternannter Prophet. Darum geht es auch in Jürgen Egyptiens neuer detailreicher George-Biographie, die das grundlegende Bild ergänzt, dem Thomas Karlauf mit seinem epochalen Werk »Stefan George. Die Entdeckung des Charisma« seine gültige Kontur gegeben hat.

Egyptiens Ausgangspunkt ist die Selbstaussage Stefan Georges: »Erstens bin ich kein Mensch« - der er entgegenstellt: »Stefan George war zweifellos ein Mensch. Ebenso zweifellos war Stefan George ein ganz besonderer Mensch.« Nun ja, da meinen zwei mit ihren Aussagen wohl etwas Verschiedenes. Heinrich Mann hatte über die im Ästhetischen wohnenden Dämonien bereits geschrieben: »Der wahre Künstler wäre ein Ungeheuer.« Das scheint mir durchaus ein Schlüssel zu Georges poetisch-prophetischer Sendung. Aber Egyptien geht es auch um Entmystifizierung des George-Kreis-Mythos. Und das aus gutem Grund.

Manfred Riedel, dieser sublime, vor einigen Jahren vorzeitig verstorbene Denker (und mein Doktorvater), der auf originelle Weise Bloch und Heidegger zu verbinden versuchte, hatte ein Buch »Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg« geschrieben. Ihn konnte man mit einer Äußerung E.M. Ciorans zur Weißglut bringen, der vom wichtigsten Entschluss seines Lebens berichtete, »den Schüler in mir zu töten« - und also aus eigenen Kräften er selbst zu werden. Riedel dagegen, der viel von George an sich hatte, stellte sich immer zuerst als Schüler vor, als Schüler solch respektabler Geistesgrößen wie Ernst Bloch, Hans Mayer, Hans-Georg Gadamer und Karl Löwith - aber eben als Schüler. War das dienende Demut Größeren gegenüber, oder der Verzicht auf das Eigene, das eben nur als »Gewaltakt in Isolation« (Benn) denkbar ist?

George ist zweifellos ein Original gewesen, aber die vielen Adepten, auch die des »Kosmiker«-Kreises in München, waren sie anderes als mehr oder weniger gelungene George-Kopien? Egyptien stellt an den Beginn seines lesenswerten Buches die Ergebenheitsadressen von George Schülern. Ernst Robert Curtius etwa schreibt 1910 nach einem Besuch (einem Empfang!) beim Gott: »Meister! Das Erlebnis des wunderbaren Abends durchzittert mich noch, und treibt mich, Ihnen aus tief bewegtem Herzen zu danken. Sie wissen alles, ich kann Ihnen nichts sagen, das Sie nicht wüssten.« Selbst in einer Gegenwart, in der man sich mehr Achtung (es muss nicht gleich Demut sein) der Jungen und Unerfahrenen vor den Älteren wünscht, in der einem vor der herrschenden geistzerstörerischen Frivolität schaudert, muss man sagen: diese Unterwürfigkeit ist höchst befremdlich.

Egyptien schildert die Figuren um George, der selbst künstlerisch jedoch immer mehr zur vielbeschworenen Leerstelle in der Mitte des »Kreise« wird, der Hüter seines Rufes unter Gefolgsleuten. Es sind durchaus interessante Gestalten darunter, die »Kosmiker«-Runde ist selbst eine Art hausgemachter Schwabinger Kunstwerk, darunter Alfred Schuler, Ludwig Klages, der (bald darauf verstoßene) Friedrich Gundolf, Karl Wolfskehl oder Ernst Kantorowicz. Franziska zu Reventlow hat einen halb anteilnehmenden, halb spöttischen Blick in »Herrn Dames Aufzeichnungen« auf diese Runde der von ihrer Wichtigkeit so überzeugten Herren geworfen.

Waren sie denn wichtig? Wohl anders, als sie es von sich selbst meinten. Sie verkörperten jenes immer wieder beschworene Zentrum, über das auch Helmuth Kiesel in seinem Begleittext zur Gedichtauswahl »Geheimes Deutschland« schreibt. Der wichtigste Gedanke dabei ist wohl die Verlagerung des Vaterlandes aus dem Raum in die Zeit. Etwas von diesem Anspruch müssen auch die Gründer dieser Zeitung in sich getragen haben, als sie sie »Neues Deutschland« nannten - und damit einen Anspruch für die Zukunft formulierten. Nationalist war George übrigens ebenso wenig wie der für ihn so wichtige Nietzsche. Beide verbindet jene »Antipolitik«, das Reich der freien Geister, eine Art »Gegen-Aura« gegen das herrschende Deutsche Reich. Nietzsches hatte in »Menschliches, Allzumenschliches« geschrieben: »Die Wendung zum Undeutschen ist deshalb immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen« - »gut deutsch sein« heiße »sich entdeutschen«.

Es gibt hier also jene Utopie des Vaterlandes, die einer europäischen Vision entspricht, wie das wegen seiner jüdischen Herkunft von den Nazis verfolgte George-Kreis-Mitglied Ernst Kantorowicz wusste. Wenn der Hitler-Attentäter Stauffenberg vor seiner Exekution ausrief: »Es lebe das Geheime Deutschland!«, dann war damit ein anderes Reich gemeint als jenes Dritte Reich Hitlers, das es mit allen Mitteln zu bekämpfen galt. Oder wie Klaus Mann 1933, im Todesjahr von George, in der Exilzeitschrift »Die Sammlung« formuliert: »Hitler - und Stefan George: das sind zwei Welten, die niemals zueinander finden können. Das sind zwei Arten Deutschland.«

Jürgen Egyptien, Stefan George. Dichter und Prophet, Theis Verlag, 472 S., 29.95 Euro. Stefan George, Geheimes Deutschland. Gedichte, Ausgewählt von Helmuth Kiesel, Beck Verlag, 157 S., 18 Euro

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