Land der Innovatoren, nicht der Patente
Das DIW sieht die wirtschaftlichen Potentiale in Griechenland ungenutzt und erwartet kaum Besserung
Es wird viel darüber diskutiert, wie es mit Griechenland finanziell weitergeht, wenn Ende August das dritte Kreditprogramm der europäischen Gläubiger ausgelaufen ist. Doch was wirtschaftlich mit dem hoch verschuldeten Euroland passiert, wird meist ausgeblendet. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) nimmt dies im aktuellen Monatsbericht unter die Lupe. Ergebnis der Untersuchung: Ein jährliches Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von fünf Prozent ist angesichts der wirtschaftlichen Potentiale möglich, aber wenig realistisch.
Als Stärken der griechischen Wirtschaft sehen die Berliner Forscher die große Anzahl gut ausgebildeter Fachkräfte sowie gute Grundlagenforschung an. Der Anteil der wissens- und technologieintensiven Branchen an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung hat seit 2010 von 20 auf 27 Prozent zugenommen (EU-Schnitt: 33 Prozent). Dies liege aber laut Co-Autor Anselm Mattes mehr an dem »sehr starken Rückgang der weniger technologischen Branchen«.
Tatsächlich blickt Griechenland auf einen »in jüngster Zeit in Europa nie dagewesenen Absturz« zurück, wie es Alexander S. Kritikos, DIW-Forschungsdirektor Entrepreneurship, bei der Vorstellung der Studie am Mittwoch in Berlin bezeichnete. Um 42 Prozent sei die Bruttowertschöpfung seit 2008 zurückgegangen, vor allem bei Kleinstunternehmen und weniger bei großen. Seit 2014 gebe es zumindest eine Seitwärtsbewegung, aber wie das als Aufschwung bezeichnet werden könne, wie es manche Politiker tun, ist Kritikos »rätselhaft«. Zwar sei die Haushaltskonsolidierung »halbwegs geglückt«, doch die Wirtschaft kommt kaum voran: Die DIW-Forscher gehen von einem schwachen BIP-Wachstum von ein bis zwei Prozent in den kommenden Jahren aus, und das auch nur, wenn es zu keinem Einbruch in der labilen Tourismusbranche komme.
Als Haupthemmnis sehen die DIW-Experten nicht etwa die hohen Schulden oder die Austeritätspolitik an, sondern das Ausbleiben »angebotsorientierter Strukturreformen«. Die Liste der DIW-Forscher ist lang: überbordende Bürokratie, widersprüchliche Verwaltungsvorschriften, sehr lange Gerichtsverfahren, unzuverlässiges Steuersystem, nicht gefördertes Zusammenwirken von Wissenschaft und Wirtschaft. Griechenland, so die Diagnose, hat zwar viele Innovatoren, sei aber bis heute EU-Schlusslicht bei Patenten. Die Schuld für diese Entwicklung gibt Kritikos einerseits der Troika, die die Schwerpunkte völlig falsch setzte und sich auf Sozialkürzungen und Arbeitsmarktderegulierung konzentrierte, ohne ein soziales Auffangnetz zu errichten. Andererseits hätten aber auch die jetzige griechische Linksregierung und ihre konservative Vorgängerin »nicht die Krise als Chance genutzt«. Anders die Portugiesen, die die Vorgaben der Troika nicht einfach übernommen hätten, sondern in Verhandlungen alternative Maßnahmen durchsetzen konnten. Mit dem Ende des Kreditprogramms werde der Reformdruck in Griechenland weiter schwinden.
Den Einwurf von »nd«, dass es vor allem der massive Nachfrageeinbruch durch stark gesunkene Löhne, gekürzte Renten und massiv erhöhte Steuern sowie ausbleibende staatliche Investitionen seien, die mögliche Investoren und Firmengründer abschreckten, lässt Kritikos nicht gelten. Nach seiner Meinung leidet Griechenland unter einer Strukturkrise, die nicht 2008, sondern schon 2003 begann, als immer mehr Innovatoren aus Frust über die Zustände das Land verließen. Und die Perspektive, so sein Credo, liegt weniger in der Binnenwirtschaft als in höheren Exporten.
Letztlich kritisieren aber auch die DIW-Forscher die mangelhaften Staatsausgaben: Während in nordeuropäischen Länder, wie von der EU empfohlen, drei Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung ausgeben werden, war es in Griechenland unter der Troika-Haushaltshoheit zuletzt gerade mal ein Prozent.
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