- Kultur
- Ernst Toller
Schreiben, reden, helfen
Ernst Tollers Briefe ergänzen die große Edition seiner Werke
Die Sorgen wuchsen ihm über den Kopf. »Im Moment«, schrieb Ernst Toller am 22. Februar 1939 an seine Vertraute Betty Frankenstein, »bin ich so leer und erschöpft wie selten zuvor.« Die finanzielle Situation desaströs, das mühsam Ersparte, das er eigentlich nicht antasten wollte, aufgebraucht. In zwanzig Monaten hatte er nicht einen Bruchteil dessen verdient, »was ich zum blossen Dasein brauche«. Immer wieder war er losgezogen, um Geld zu beschaffen für andere, die wie er im Exil ums Überleben kämpften, jetzt war er selber in Not.
Tausend Dollar brauchte er, um Schwester und Schwager (die später, 1942, nach Auschwitz gebracht und dort ermordet wurden) die Ausreise aus Deutschland zu ermöglichen. Er hatte sie nicht, und er wusste auch keinen, der sie ihm leihen würde. Er litt unter Schlaflosigkeit, das vierte oder fünfte Mal schon in seinen Exiljahren, und er ahnte, dass das wieder monatelang so bleiben würde. Ein Stipendium könnte helfen, ein neues Stück zu schreiben und endlich seine Aufsätze und Reden für den Druck einzurichten, aber sie war nicht sonderlich groß, diese Aussicht.
Nun sind, nach der Kritischen Ausgabe der »Sämtlichen Werke« von 2014, auch Tollers Briefe da, gut 1600 Schreiben, Postkarten und Telegramme, in mehrjähriger, oft genug detektivischer Arbeit von den Herausgebern aufgespürt, zusammengetragen und kommentiert, wahrscheinlich lückenhaft trotz alledem, denn vieles ging in den Wirren der Zeit, durch Verfolgung, Haft, Zensur und Exil verloren. Noch im letzten Augenblick wurden weitere Schreiben entdeckt, die im Anhang nachgetragen werden. Die beiden umfangreichen Bände, ediert im Wallstein-Verlag, erzählen Tollers Geschichte zwischen 1915 und 1939, und obwohl er, allzu bescheiden, von sich sagte, er sei »kein gelenker Briefschreiber« gewesen, verdankt man der Korrespondenz wichtige Auskünfte über seine Lebensumstände, seine Tapferkeit, seine Skepsis, seine unermüdlichen Hilfsaktionen in den Exiljahren.
Der erste Brief, den die Sammlung wiedergibt, wurde Ende Mai 1915 in einem Schützengraben geschrieben. Der Student Toller war bei Kriegsausbruch spontan aus Grenoble zurückgekehrt und hatte sich freiwillig der Königlichen Bayerischen Fußartillerie zur Verfügung gestellt. Jetzt war er wieder in Frankreich, wo seine Begeisterung in dreizehn Frontmonaten allerdings rapide dahinschmolz. 1917 aus dem Militär entlassen, entschiedener Kriegsgegner jetzt, schloss er sich streikenden Arbeitern an. Er war dabei, als die Revolution Bayern erreichte, wurde führender Kopf der Münchner Räterepublik, von den weißen Terrorbanden gejagt und verhaftet, in die Todeszelle geworfen und zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Er war dreißig, als er wieder frei kam, fest entschlossen, weiter für seine Ideale zu leben. »Mein Haar wird grau«, schrieb er. »Ich bin nicht müde.«
Zehn Jahre später, nun schon im Exil, erklärte Toller in einem Brief, dass es wirklich nicht schwer war, die Entwicklung vorauszusehen: »Aber Hitler konnte nur darum zur Macht gelangen, weil die Arbeiterschaft zersplittert ist.« Er fuhr nach Dubrovnik (damals noch Ragusa) und stand am 28. Mai 1933 vor den Delegierten des Internationalen PEN-Kongresses. Es wurden die berührendsten Momente des Tages. Toller sprach im Namen derer, die in Deutschland verboten waren, verfolgt, vertrieben, inhaftiert, sprach über die Bücherverbrennung, die noch keine drei Wochen zurücklag, nannte all die Namen, die an jenem 10. Mai geächtet wurden. Die offizielle deutsche Delegation, auf den Kurs der Nazis eingeschworen, hatte noch versucht, seinen Auftritt zu verhindern, und war rechtzeitig aus dem Saal geflüchtet. Toller beendete seine Rede mit einer Resolution gegen die NS-Diktatur. Sie wurde mit nur einer Gegenstimme angenommen.
»Wenn das Joch der Barbarei drückt, muss man kämpfen und darf nicht schweigen. Wer in solcher Zeit schweigt, verrät seine menschliche Sendung«: Mit diesem Bekenntnis übergab Toller kurz darauf sein Buch »Eine Jugend in Deutschland«, den Bericht über sein Leben, beendet in diesem dramatischen Frühjahr 1933 und erschienen bei Querido, im eben gegründeten Amsterdamer Exilverlag. Und er arbeitete weiter, ergänzte seine Erinnerungen um ein Kapitel, das den »Zusammenbruch von 1933« behandelte, und schrieb nun Brief um Brief. Die Korrespondenz seiner letzten Jahre, häufig englisch geführt (in der Ausgabe allerdings nicht übersetzt), füllt fast den gesamten zweiten Band. Die Liste der Adressaten ist lang. Unter den Schriftstellern Klaus Mann, Kurt Kläber, Gustav Regler, Stefan Zweig, Becher, Kisch, Remarque, Hermann Kesten, Wieland Herzfelde, Robert Neumann, Upton Sinclair, Herbert George Wells, Maxim Gorki, Sergej Tretjakow. Daneben stehen Schreiben an Kurt Eisner, Churchill, Leo Trotzki, Anatoli Lunatscharski, an Freundinnen, Gefährten und namhafte Hilfsorganisationen.
Die damals um ihn waren, in Zürich, in London oder New York, haben bewundernd erzählt, wie sich Ernst Toller sofort und ganz allein, mit dem Mut der Verzweiflung an die Arbeit machte, sich ruhelos um die Not anderer kümmerte. Er litt furchtbar unter der Uneinigkeit der deutschen Emigranten, reiste herum, redete, stellte die eigenen Bedürfnisse zurück, auch seine literarische Arbeit. Im Februar 1937 informierte er Willi Bredel, der in Moskau die Exilzeitschrift »Das Wort« redigierte, warum er in letzter Zeit keine Beiträge schickte: »Seit drei Monaten bin ich in Amerika und reiste kreuz und quer durchs Land. In etwa 80 Massenversammlungen habe ich über die Nazis und besonders über Hitlers Rolle in Spanien gesprochen.« Er war natürlich zu Beginn des Bürgerkriegs auch nach Spanien gefahren und hatte dort (»Ich kann den Gedanken an diese hungernden Kinder nicht mehr ertragen«) seine Ein-Mann-Aktion gestartet, um der Bevölkerung auf beiden Seiten der Front zu helfen.
Noch der letzte datierte Brief, geschrieben am 13. Mai 1939, war eine Bitte um Hilfe. Der Schriftsteller Walter Mehring, hatten ihm Freunde berichtet, befand sich »in größtem Elend«, dem Verhungern nahe. »Wie ich höre«, schrieb Toller, »wird die Frage eines Stipendiums für ihn erörtert. Ich empfehle ihn aufs wärmste und dringendste.« Neun Tage später, am 22. Mai, hat er sich in seinem New Yorker Hotelzimmer erhängt. Die Emigranten, verstreut in der Welt, reagierten fassungslos. Er war einer ihrer Stärksten gewesen, einer, der nie ans Aufgeben dachte. Wie es wirklich um ihn stand, wie ihn die Kräfte verließen, die Depressionen zunahmen, behielt er für sich. Allein Betty Frankenstein erfuhr, wie sehr ihn der Kampf ermüdet hatte.
Ernst Toller: Briefe 1915 - 1939, hg. von Stefan Neuhaus, Gerhard Scholz, Irene Zanol, Martin Gerstenbräun-Krug, Veronika Schuchter und Kirsten Reimers, Mitarbeit: Peter Langemeyer, Wallstein-Verlag, 2 Bde., 1764 S., geb., 69 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.