Marionette ohne roten Faden
Theater Magdeburg: »Die Präsidentin« mit Corinna Harfouch
Es gibt den aufrechten Gang, und es gibt das bemüht aufrechte Taumeln - im Zerrfeld von Meinung und Replik, Fakt und neuem Fakt (Meinung geht vor Fakt!), zwischen Gesinnung und Gegengesinnung. Das Taumeln ist die Bewegungsart jenes Zwischenfrontlers, der im politischen Jetztgeschehen die Fürsprache und die Widerrede über seine einzige Zunge bugsieren möchte. Er vertritt das Nein, wenn zu laut Ja geschrien wird. Er sagt zur Gesellschaft Ja, wo Radikalisten nur immer ihr Nein gegen das Bestehende pauken. Hoffnung? Jahrhunderte Klassengesellschaft haben den Sozialismus hervorgerufen, sieben Jahrzehnte Leninismus haben diese Idee vom Sozialismus wieder weit hinter den Horizont getreten. Frieden? Europaweite Reformation ist mit nationalgeschnürter Gegenreformation konfrontiert. Demokratie? Rechts rächt sich an Links, indem es sich das gleiche Recht aufs Parlament nimmt. Links will das Volk aus Manipulationsfesseln freisprengen, stößt aber auf die beglückendste Folge jüngster Zeitenwende: kein Bedarf der Leute an einem Kampf, der nicht nur höheren Lohn, sondern auch das höhere Bewusstsein will. Und dann noch der Sozialstaat - er kommt an seine Grenze? Nein, kommt er nicht, denn dort ist alles versperrt, an den Grenzen sammeln sich Millionen Bedürftige.
So taumeln wir. Ratlos, weglos. Verantwortungslos? Am Theater Magdeburg sind neun Schauspieler - während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen - unentwegt damit beschäftigt, auf der Bühne Trennwände, Stühle, einen Tisch, andere Requisiten zu bewegen: schieben, platzieren, wieder schieben, neu platzieren. Eine manische, intensiv kopflose, aber blendend ineinandergreifende Motorik: Das Chaos spielt Ordnung, der Stillstand simuliert Bewegung, die Geschäftigkeit gibt sich planvoll. Wie dieses Entree in seinen Wiederholungsschleifen nervt, so nervt uns unsere eigene Wahrnehmung von Welt: nur noch Flattern, Flirren, Flüchtigkeit; überall Reizbeschuss und Filz und fade Volksvertreter. Nichts ist an seinem Platz, allseits nur Kulisse, in der sich aber nichts mehr zusammenschiebt. Wir sind wortreich ortlos. Ja, wir taumeln. Und sehen rundum: Wenn alles nur noch am seidenen Faden hängt, bietet sich irgendeine Marionette als Retterin an.
Cornelia Crombholz inszenierte »Die Präsidentin« nach dem gleichnamigen Comicbuch von François Durpaire und Farid Boudjellal (Bühne: Marcel Keller); Premiere war bei den Ruhrfestspielen. Schon in der privaten Ratlosigkeitsraserei des Ensembles zu Beginn, mitten im Räumrumor, offenbart sich, dass auch das Theater taumelt. Es ist ein Verständigungsmedium unter längst Besiegten und Gedämpften geworden.
Nichts Weltbewegendes kommt mehr vor im Komfort des Stadttheaters. Auch die Einbildung, verschont zu sein, ist Komfort - und Komfort kämpft nicht. Spielen, ja, das geht trotzdem noch, und so spielt man sich wenigstens die Angst weg - mit Angstfantasien. Hier mit dem Konstrukt, Marie Le Pen werde französische Präsidentin. Das Horrorszenario. Zwei Stunden Nummernrevue: messianischer Wahnsinn, medialer Terror, zündelnde Undiplomatie. Vom »Plapperlament«, den »Publikanern« und der neuen Großmacht der »Chinasen« ist die Rede, die soziale Abwärtsspirale ist eine »Abwärtssandale«. Brückenschlag von Paris nach Magdeburg: Einer betont, wie schön es doch sei, in einem Bundesland zu leben, dessen Name sich mit SA abkürzen lässt. Videos von Wolken, Wellen und Vogelflug melodrama᠆tisieren. Live-Musik am Bühnenportal peitscht an. Licht- und Nebelflächen geben ihren Zirkus dazu. Das politische Arsenal kippt seinen täglichen Müll ab: Euro, Frexit, Rebellion der »Unsländer« gegen die »Sulime«. Die Chöre der Korrupten. Geschminkte Gelinkte und geschmierte Saubermänner.
Und als Präsidentin: Corinna Harfouch. Willfährige Gliederpuppe, Dummheit mit Pappkrone, Charme auf Knopfdruck. Es gibt Schauspielerinnen, die halten sich eine Rolle vom Leib oder ziehen sie sich an wie einen passablen Anzug oder stehen kühl daneben oder fühlen sich einfach gemütswarm ein. Die Harfouch, kleidknallrot und trumpblond, packt ihre Rolle beim Schopf, der ihr eigener ist. Sie offenbart schamlose Lust, eine Königin zu spielen, und sie präsentiert lustvoll jene Scham, doch in keiner Faser eine Königin zu sein. Sie glotzt so herrlich den Abgrund an, in den ihre Präsidentin mit jeder Aktion hineinfällt - und dies für Aufschwung hält: binnen Tagen eine Bürgerkriegsherrin. Sklavin hämischer Hintermänner, deren Geist wie ein Vorderlader anmutet.
Ja, Fertigteilkabarett. Stanzenrevue. Feurig, fuchtig, dennoch mit reibungslos funktionierendem Einverständnisfaktor. Das Theater zuckt die Schultern, die aber nicht kalt wirken sollen. Man reiht sich ein in die allgemeine Unbeholfenheit. Aber Reih und Glied ist das Gegenteil von Theater, also wird aufgedreht. Im Leerlauf durch die Themen des Tages. Mit Glanzpartikeln. Wenn Corinna Harfouch eine Rede hält, als bewerbe sich ausgerechnet Fellinis Gelsomina für den Arturo Ui. Oder wenn sie berauscht als Jeanne d’Arc auf einem Manns-Esel reitet. Wie überhaupt die Stärken der Crombholz-Regie aufblitzen dürfen: expressive Körper und die chorische Eindringlichkeit, wenn Männer als Femen ihre Wut ins Spiel wuchten, wenn Stimmen des »Unsichtbaren Komitees« leise, mahlend, drohend Widerstand und Hass und reinigende Gewalt erzählen.
Und die Harfouch? Sie wird um das Ungenügen dieser Politposse wissen. Na und? Sie ist eine Erlebniserotikerin. Ihre Marionette Le Pen hat Furor auch ohne den roten Faden. Ihre Sinnlichkeit ist das Distanzlose. Ungekünstelter Schrei, bewusster Fall ins Leere. Sie kann zeigen, wie Nerven Körper machen. Sie dumpft, sie dampft, sie blubbert, sie blödet, sie juchzt, sie japst, sie ist Kokette und Kobold, sie ist das Clownswesen, dessen polternde Heiterkeit immer auch eine Höflichkeit der Verzweiflung sein kann. Das Hexische, Herbe und Hilflose, verdichtet zu jenem Punkt, da es ununterscheidbar wird. Wenn so gespielt wird wie hier, geht auch der traurige Taumel des ermüdeten Theaters als wirbelnder Tanz durch.
Nächste Vorstellung: 20. Oktober
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