Jubel am Gendarmenmarkt

Marie Haller-Nevermann schenkt uns ein Buch über die Berliner Klassik um 1800

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Beinah wäre Schiller nach Berlin gezogen. Eingeladen hatten Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise schon 1799 bei einem Besuch in Weimar. Aber eine Gelegenheit, der Bitte nachzukommen, gab es nie. Doch plötzlich, im Frühjahr 1804, löste Schiller das Versprechen kurzentschlossen ein, setzte sich mit der hochschwangeren Frau Lotte und den beiden Söhnen in die Kutsche und fuhr los. Am 1. Mai, einem Donnerstag, kam er an und erlebte gleich ein Wunder. Die Stadt empfing ihn wie einen Triumphator. Jubel und Begeisterung, wohin er kam. Am dritten Abend saß er in der Loge von Ifflands National-Theater am Gendarmenmarkt und sah der Aufführung seiner »Braut von Messina« zu, umbraust von endlosen Beifallstürmen. Ovationen auch an den nächsten Abenden, beim »Wallenstein«, bei der »Jungfrau von Orleans«, dazu Einladungen über Einladungen: von Hufeland, von Iffland, von Zelter, von der Königin, die ihn ins Charlottenburger Schloss bat.

Derart emphatische Huldigungen hatte Schiller noch nicht erlebt, und während er die Herzlichkeit, die ihn umgab, sichtlich genoss, liebäugelte er mit dem Gedanken, wenigstens für einige Zeit nach Berlin zu übersiedeln. »Ich habe ein Bedürfnis gefühlt«, wird er später über die Berliner Tage sagen, »mich in einer fremden und größeren Stadt zu bewegen«. Es kam nur Preußens Metropole in Frage. Berlin konnte sich mit Weltstädten wie Paris und London zwar nicht messen, aber verglichen mit Weimar, diesem winzigen Residenznest, war das doch eine imponierende, weltläufige Stadt. Hier lebten 1804 schon 180 000 Einwohner, Weimar hatte gerade mal 6300. Noch gab es keine Universität (die wurde erst 1810 gegründet), wohl aber eine Akademie der Wissenschaften und eine Akademie der Künste, Salons, in denen das intellektuelle Gespräch gepflegt wurde, und dazu ein Bürgertum, das die Theater bevölkerte und sich für Literatur interessierte. Wo sonst sollte einer wie Schiller besser aufgehoben sein?

Um 1800 gab es eine kulturelle Blütezeit auch hier, aber von der Berliner Klassik ist kaum die Rede. Der Olymp stand in Weimar. Dort lebten Wieland, Goethe, Herder und Schiller und verschafften dem Fürstentum mythischen Ruhm. Von Berlin hielten sie wenig. Goethe war nur einmal dort und reiste gern wieder zurück. Damals, 1778, regierte noch der alte Fritz, der von der modernen deutschen Literatur nichts hielt, entzückt nur nach Frankreich blickte, nur französisch las und sprach und in Potsdam sein kleines Versailles unterhielt. Erst sein Tod 1786 hat für eine Aufbruchsstimmung gesorgt, die enorme Folgen hatte und die Stadt an der Spree zu einem Ort der Wissenschaft, der Bildung, der Reformen machte, mit dem glanzvollen Weimar durch mancherlei Fäden verbunden.

Ein Expertenteam, das seit Jahren in einem Forschungsprojekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften dieser Entwicklung auf den Grund geht, ist zu dem Ergebnis gekommen, »dass es irreführend, ja falsch ist, den Höhepunkt der deutschen Kultur um 1800 auf den Raum Weimar/Jena zu beschränken«. Marie Haller-Nevermann liefert in ihrem Buch »Mehr ein Weltteil als eine Stadt« jetzt eindrucksvolle Ansichten zu dieser These. Der einleitenden Darstellung der großstädtischen Bürgerkultur um 1800 folgen eingehende Studien über markante Protagonisten der Berliner Künstler- und Geistesrepublik.

Die Unterschiede sind beträchtlich. Dort, in Weimar, die Aktivitäten rund um den bescheidenen Fürstenhof, hier, in Berlin, eine weite, weniger konzentrierte Bürgerkultur. Hier der Baumeister Carl Gotthard Langhans, der mit der barocken Formensprache brach, zwischen 1789 und 1793 das Brandenburger Tor schuf und anschließend, von 1800 bis 1802, das Berliner Nationaltheater, zu Ansehen und Ruhm geführt vom legendären Intendanten und Schauspieler August Wilhelm Iffland. Gebahnt war damit der Weg für Karl Friedrich Schinkel, den genialen und einflussreichen Baumeister des Königs.

Kapitel für Kapitel führt Haller-Nevermann durch die Galerie der Berühmten. Da ist Johann Gottfried Schadow, der Bildhauer, Karl Philipp Moritz, der gelehrte Schriftsteller, der von ganz unten kam und Mitglied zweier Berliner Akademien wurde, Carl Friedrich Zelter, der die Berliner Sing-Akademie prägte und für eine sensationelle Neuerung sorgte: den »gemischten« Chor, eine Gemeinschaft aus Frauen und Männern. Heinrich von Kleist, wieder einmal am Abgrund, gründete 1810 aus Geldnot die »Berliner Abendblätter«, die erste Tageszeitung der Stadt, kurzlebig zwar, aber von enormer Bedeutung.

In der Weinstube von Lutter und Wegner und in den Salons verkehrte der Jurist und Schriftsteller E. T. A. Hoffmann, der sich mit den politischen Mächten anlegte, und in Berlin entwarf Wilhelm von Humboldt die Konzeption fürs humanistische Gymnasium und stritt für seine Idee einer Universität, die auf den freien, von den Einflüssen des Staates unabhängigen Wissenschaftsbetrieb setzte.

In der Mitte des Buches steht, wahrscheinlich absichtsvoll platziert, eine ausführliche Betrachtung der Berliner Salonkultur, dominiert von zwei jüdischen, unglaublich engagierten Frauen. Die eine, Rahel Varnhagen, eine Königin der Geselligkeit, war der magische Anziehungspunkt für alle, die das Gespräch suchten, den Gedankenaustausch, die Verständigung über Liebe, Musik, Theater, Literatur. Man gab sich liberal und aufgeklärt, kannte keine Rangunterschiede, hoffte auf Veränderungen in Preußen, hoffte vor allem, dass Napoleon die Rechtlosigkeit der Juden beenden würde. Die andere, Henriette Herz, begabt fürs Stiften von Freundschaften, außergewöhnlich wie Rahel, aber meist in deren Schatten, hat in ihren Erinnerungen später erzählt, wie Jean Paul, Ludwig Börne, Karl Philipp Moritz oder August Wilhelm Schlegel in ihrem Salon diskutierten.

Natürlich war 1804 auch Schiller ihr Gast. Sie staunte: Da erschien kein Feuerkopf, kein glühender Redner, sondern ein kluger, bedächtig urteilender Zeitgenosse, der streng darauf achtete, keinen Anstoß zu erregen. Er hätte gut nach Berlin gepasst. Aber er überlegte sich die Sache dann doch noch. Er war krank, sehr krank, und die Übel meldeten sich auch jetzt. Ein paar Tage kam er nicht aus dem Zimmer. Außerdem zerriss er, wie er schrieb, »höchst ungern alte Verhältnisse«, schon gar nicht das Verhältnis zu Goethe. So blieb alles beim Alten. Am 17. Mai 1804 reiste er wieder ab. Und hatte nur noch ein Jahr zu leben.

Marie Haller-Nevermann: »Mehr ein Weltteil als eine Stadt«. Berliner Klassik um 1800 und ihre Protagonisten. Galiani Berlin, 496 Seiten, geb., 28 €.

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