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Jesus war der erste Gammler

Eine Open-Air-Ausstellung zeigt Charlottenburg als das Zentrum der Revolte von 1968

»Interessieren Sie die Vorgänge damals?«, raunt eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um. Ein hochgewachsener, graumelierter Herr im hellen Sommeroutfit. Ich bejahe und frage nach: »Waren Sie dabei?« Ja, er habe damals sein Studium der Politikwissenschaften am Otto-Suhr-Institut begonnen. Er stamme aus dem Rheinland, habe über den zweiten Bildungsweg die Hochschulreife erlangt. Wie so viele damals. Wie der ehemalige Juso-Vorsitzende und Altkanzler Gerhard Schröder. Meine Zufallsbekanntschaft offenbart, dass West-Berlin für ihn ein aufregendes Pflaster war. Er sei aber stärker in der gewerkschaftlichen Jugend denn in der studentischen aktiv gewesen, erzählt er. Er blieb in Spree-Athen hängen. Seine Visitenkarte ziert ein Urberliner Spitzname: Kalle.

Nachdem ich mir seine Lebensgeschichte in praller Sonne angehört habe, ist es an mir, Auskunft zu geben. Mein Interesse an der Open-Air-Ausstellung ist, gestehe ich, auch dienstlich motiviert. Mit Freude vernehme ich, dass er die Zeitung »neues deutschland« gut kenne und schätze. Als kleiner Wermutstropfen folgt das Bekenntnis, dass er Abonnent der »jungen welt« sei. Nun, man gönnt es den Kollegen.

Der Politologe und Gewerkschaftsaktivist lebt in Charlottenburg. Und dieser Stadtteil präsentiert sich derzeit als »Zentrum der Revolte«. Zweimal bin ich an der Freiluftdokumentation vorbeigefahren, was nicht nur daran lag, dass mein Navi den Joachimsthaler Platz nicht kennt, sondern auch am hiesigen geschäftlichen und touristischen Gewimmel. Da kann man schon mal schnell die sechs, nur knapp überlebensgroßen Litfaßsäulen übersehen. Schließlich gelingt es mir dann doch, meine Neugier zu befriedigen, warum ausgerechnet Charlottenburg, das gemeinhin als ein wohlhabendes Viertel gilt und dereinst gar das höchste Steueraufkommen pro Kopf in Deutschland aufzuweisen hatte, das Zentrum des jugendlichen Aufbruchs vor einem halben Jahrhundert gewesen sei. Und nicht etwa Dahlem mit der Freien Universität »jwd« - »janz weit draußen«, wie der Berliner sagt. Ganz einfach: In Charlottenburg befindet sich die Technische Universität, an der nicht nur Sit-ins stattfanden, wie an der höhere Studentenzahlen zählenden FU, sondern in deren Audimax auch der berühmte Internationale Vietnamkongress vom 17./18. Februar 1968 mit über 5000 Teilnehmern, dessen Schlusserklärung eine Kampfansage an den US-Imperialismus, die NATO und die westeuropäischen Metropolen war. Gekrönt wurde der Kongress von einer machtvollen Demonstration gegen den Vietnamkrieg über den Ku’damm mit über 10 000 Beteiligten. Der wiederum weitere große Protestmärsche folgen sollten, so nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April des Jahres sowie im Mai ’68 gegen die Notstandsgesetze. Doch schon in den zwei Jahren zuvor erlebte Charlottenburg große Kundgebungen, so im Februar 1966, auch bereits gegen den »schmutzigen Krieg« in Vietnam.

Organisationen der »Neuen Linken«, Diskussions-, Musik- und Informationsklubs sowie Wohnkollektive und Aktionsräte hatten ihren Sitz in Charlottenburg, informiert eine der Litfaßsäulen gegenüber dem Café Kranzler. Sozialistische, sozialdemokratische, liberale und humanistische Studierende gründeten in diesem Stadtteil die Keimzelle der sich gegen die erste Große Koalition der Bundesrepublik auflehnenden Außerparlamentarischen Opposition (APO), forderten Bildungsreformen sowie die Abschaffung autoritärer Strukturen in Staat und Gesellschaft, ersannen neue Protestformen und legten sich mit Polizei und Justiz an. Tödlich endeten die Proteste gegen den Besuch des persischen Shahs Mohammad Reza Pahlavi und seiner Gattin in West-Berlin am 2. Juni 1967 - mit dem Mord an Benno Ohnesorg durch Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras.

Seit Mitte der 60er Jahre versammelten sich auf dem Sockel der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Jugendliche, die man »Gammler« schimpfte und denen Spießbürger im alten Nazijargon zuriefen: »Euch müsste man vergasen!« Worauf jene konterten: »Jesus war der erste Gammler.« 1967 störten linke Aktivisten den Weihnachtsgottesdienst. Selbst Mitglieder der Evangelischen Studentengemeinde entrollten während der Christmette Transparente, die zu politischem Engagement aufriefen. Im anschließenden Gerangel schlug ein Kirchenbesucher Studentenführer Rudi Dutschke blutig. Die darob empörten Studenten sprengten in der Folge buchstäblich die Gottesdienste mit Knallkörpern.

Auf einer anderen Litfaßsäule werden in Bild und Text Kommunen als alternative Wohn und Lebensgemeinschaften vorgestellt. Es fehlt nicht die legendäre um Rainer Langhans in einer Fünfzimmerwohnung am Stuttgarter Platz, die dem Motto »Das Private ist politisch« frönte und sich nach zwei Jahren aufgrund innerer Zerwürfnissen wieder auflöste. Die »umherschweifenden Haschrebellen« aus dem Umfeld der Charlottenburger Wieland-Kommune sowie die »Tupamaros West-Berlin«, die im November 1969 eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße deponierten, sind erwähnt.

Thematisiert wird der Prozess gegen Horst Mahler, dem ehemaligen Rechtsanwalt der APO und später der RAF, der inzwischen ganz rechtsaußen gelandet ist. Ihm sollte damals die Lizenz entzogen werden, weil er nach dem Mordanschlag auf Dutschke an einer Demonstration zum Springer-Haus teilnahm, welche dem Pressemogul eine Mitschuld am Attentat zuschrieb. Die Kundgebung der Tausend gegen das drohende Berufsverbot Mahlers am 4. November mündete in eine Straßenschlacht. »Zum ersten Mal gingen die Demonstranten, darunter Rocker, zum Angriff über«, erfährt man in der Open-Air-Ausstellung. »Sie bewarfen schlecht ausgerüstete Polizisten mit Eiern und Pflastersteinen und versuchten, das Gerichtsgebäude zu stürmen.« Rund 130 Uniformierte und 22 Demons-tranten wurden teils schwer verletzt. Der Streitpunkt, ob Gewalttaten gegen Menschen gerechtfertigt seien, führte zur Spaltung der Studentenschaft. Zuvor aber hat das Ehrengericht der Berliner Anwaltskammer den Antrag auf ein Berufsverbot abgelehnt. Und die Polizei erhielt in der Folge eine martialische Ausrüstung, um besser knüppeln und auseinanderjagen zu können.

Es hätte die Besucherin verwundert, wenn nicht auch auf einer Litfaßsäule die Stasi auftauchte. Sie erscheint im Zusammenhang mit dem Westberliner Republikanischen Klub, nach dessen Vorbild sich bundesweit 42 derartige Klubs gründeten und der allein schon wegen seiner prominenten Gäste wie Erich Fried, Pete Seeger und Willy Brandt für das MfS von Observationsinteresse war.

Die - gewiss - an viel Bekanntes, aber auch weniger geläufige Details des rebellischen Jahres 1968 erinnernde Ausstellung wurde vom Museum Charlottenburg-Wilmersdorf gestaltet, in dessen Domizil, in der Villa Oppenheim, eine weitere, monografische Schau gezeigt wird: Bilder des Fotoreporters Klaus Mehner aus den dramatischen Sechzigern.

Open-Air-Aussstellung »1968: Berlin-Charlottenburg. Zentrum der Revolte«, Joachimsthaler Platz, mit nächtlicher Videoprojektion; »Momentaufnahme. Fotografien von Klaus Mehner«, Villa Oppenheim, Schloßstraße 55.

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