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Die Stunde der Anderen

Arthur Abele war oft verletzt, im Winter sogar im Gesicht gelähmt. Nun darf er sich Zehnkampf-Europameister nennen

Die Pappkrone wollte Artur Abele nicht mehr absetzen. Ganz egal, wie offensichtlich eilig sie von den Organisatoren der Leichtathletik-EM zusammengebastelt worden war, als klar wurde, dass der Zehnkämpfer in Berlin die erste deutsche Goldmedaille gewinnen würde. Selbst als am Ende des Interviewmarathons gar keine Kameras mehr auf »König Arthur« gerichtet waren, behielt er sie auf dem Kopf. Das war sein Moment. Der wurde bis zum Ende ausgekostet.

Gut 37 000 Fans hatten dem Ulmer Minuten zuvor zugejubelt, als er ungefährdet die letzte Disziplin hinter sich gebracht hatte. »Der 1500-Meter-Lauf war super anstrengend, aber vor allem auf den letzten 200 Metern habe ich gemerkt: Hier passt alles. Das kann ich jetzt genießen. Das war magisch«, funkelten die Augen des neuen Europameisters auch eine Stunde nach dem Zieleinlauf noch vor ehrlicher Freude.

Dabei kam dieses Gold gleich doppelt unerwartet. Jene Fans hatten sich zu 99 Prozent sicher nicht ihr Ticket für den Mittwochabend im Olympiastadion für Abele gekauft. Es sollte der große Medaillenabschied des Lokalmatadoren Robert Harting werden. Abele trauten höchstens ein paar Zehnkampfexperten Chancen auf Silber hinter dem überragenden Kevin Mayer zu. »Kevin war vorher der überragende Mann. Er wollte hier einen Weltrekord aufstellen. Aber da geht auch mal was schief, wenn man volles Risiko geht«, sagte Abele. In der Tat wollte der Franzose keinen Sicherheitssprung in die Sandgrube machen und schied mit drei ungültigen Versuchen früh aus. Auch Harting schaffte mit dem Diskus nicht die erhoffte Medaille, und plötzlich stand spät am Abend Arthur Abele im Fokus. »Das war plötzlich die Stunde der Anderen. Und die Chance habe ich genutzt. Ich war hellwach und dachte mir: ›Jetzt bin ich mal dran.‹ Und es hat endlich funktioniert.«

Hinter Abele stecken viele Leidensjahre. 2008 musste er den olympischen Mehrkampf verletzt vorzeitig beenden. Eine Blessur verhinderte auch den Start 2009 bei der Heim-WM in Berlin. 2015 riss dann die Achillessehne. »Selbstzweifel sind immer da. bei der Verletzung dachte ich schon: Das war’s jetzt. Aber einen Tag später war auch schon wieder klar, dass ich weiter mache. Verletzungen gehören dazu, bei mir leider etwas häufiger. Die Botschaft ist, nie aufzugeben, wenn man einen Traum hat. Irgendwann klappt es dann«, so Abele. »Ich mache diesen Sport jetzt seit 21 Jahren. Vor zehn Jahren wäre es schon an der Zeit gewesen, aber erst jetzt hat es funktioniert.«

Hätte Harting noch mal Gold gewonnen, hätte er wohl wieder sein Hemd zerrissen. Abele ist mindestens genauso muskulös, aber er ist nicht so ein Typ. Abele weinte einfach nur im Ziel. »Die Emotionen kamen durch, denn auch das letzte Jahr war sehr hart. Im Dezember hatte mich mein Sohn mit einer Infektion aus der Kita angesteckt. Die hat sogar den Gesichtsnerv betroffen. Ich bekam eine Lähmung und dachte, ich hätte einen Schlaganfall. Ich musste den ganzen Sport auf Eis legen, habe sechs Kilo zugenommen. Das mochte die Achillessehne nicht und machte Probleme. Erst im März konnte ich wieder trainieren. Doch ab da ging es nur noch bergauf«, beschrieb Abele den letzten Leidensweg zum Glück. »Es war an der Zeit für die Belohnung.«

Verletzungsgeschichten können fast alle Zehnkämpfer von sich erzählen. Der gesündeste Sport ist das sicher nicht. Der ehemalige Vizeweltmeister Michael Schrader ist häufiger als Fernsehexperte zu sehen denn als Sportler. Dem aktuellen Vizeweltmeister Rico Freimuth fehlt derzeit die Motivation fürs oft so schmerzhafte Training. Die Leistungsdichte in Deutschland ist dennoch hoch, vor allem, wenn die beiden zurückkehren sollten. »Bis 2020 mache ich weiter. Ich will mich nächstes Jahr für die WM in Doha und 2020 für Olympia in Tokio qualifizieren«, umriss Arthur Abele gleich nach dem Triumph seine nächsten Ziele. »Schauen wir mal, ob das klappt.«

Er weiß, dass das kein Selbstläufer wird. Mit 32 und einer solchen Geschichte hinter sich hätte er am vermutlichen Höhepunkt der Karriere auch Schluss machen können. Robert Harting ist auch nur ein Jahr älter. Aber wie gesagt, Abele ist nicht so ein Typ. »Wir hatten in diesem Jahr neun deutsche Zehnkämpfer, die mehr als 8000 Punkte geschafft haben. Die Jungen drücken, und ich bin nun der Gejagte. Die Herausforderung nehme ich aber gerne an.«

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