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»Drängendste Gerechtigkeitsfrage«
Eine Replik auf den Beitrag »Identitätsbasteleien – Über die Klassengestik der linksradikalen Klimaschutzbewegung«
Zugegeben: Es ist frustrierend, mitten in der schlimmsten Hitzewelle in Nord- und Mitteleuropa seit mindestens 2003 in einer linken Zeitung einen Text zu lesen, der der radikalen Klimagerechtigkeitsbewegung, die das sofortige Abschalten dreckiger Kohle-, Öl- und Gas-Installationen im globalen Norden fordert, eine fast schon willkürliche Ignoranz gegenüber Kumpels vorwirft. Eben diese Hitzewelle macht doch klar: Der Klimawandel ist kein Zukunftsthema mehr, sondern die bittere Realität einer Vielzahl von Menschen weltweit. Dabei geht es in erster Linie nicht (nur) um den Verlust von Artenvielfalt und Naturdenkmälern, sondern um eine massive globale Ungerechtigkeit: Der menschengemachte Klimawandel entzieht in den nächsten Jahrzehnten absehbar Hunderten von Millionen Menschen ihre Lebensgrundlagen.
Die Ungerechtigkeit liegt darin, dass ein Großteil der besonders betroffenen Menschen im globalen Süden zum Problem fast gar nichts beigetragen hat. Die Industriestaaten hingegen haben mit ihrem auf fossilen Brennstoffen basierenden Energiekonsum den Löwenanteil der heutigen Klimakrise verursacht und werden nach Prognosen am wenigsten darunter leiden. Dies bedeutet im Klartext, dass wir beim Klimawandel mitnichten alle im selben Boot sitzen, sondern das Boot der Ärmsten zuerst sinken wird und das der Reichsten zuletzt – und genau deshalb stellt er eine dramatische globale Ungerechtigkeit dar.
Apropos »dramatisch«: Das renommierte Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung warnt in einer aufsehenerregenden Studie, dass es auch bei Einhaltung der Marke von zwei Grad durchschnittlicher globaler Erwärmung unter Umständen nicht mehr möglich sein wird, den Klimawandel überhaupt noch zu kontrollieren, auch wenn die Weltwirtschaft dann sofort »dekarbonisiert« würde. Wir würden demnach unaufhaltbar auf eine globale »Heißzeit« zusteuern, mit einer durchschnittlichen Erwärmung von vier bis fünf Grad Celsius.
Das wiederum würde vielerorts ein Ende der Möglichkeit der sesshaften Landwirtschaft bedeuten, weil diese relativ stabile Klimaverhältnisse benötigt. Was wir gerne als »menschliche Zivilisation« bezeichnen, fand in einer Periode unüblicher Stabilität des Weltklimas statt: im Holozän (ca. die letzten 12.000 Jahre), in dem das Klima nicht mehr als zwei Grad vom Mittelwert abwich. Eine Welt mit um die acht Milliarden Menschen, aber ohne sesshafte Landwirtschaft, mit globalen Kommunikationsmitteln und trotzdem nationalen Grenzen: Das kann lustig werden!
Vor diesem globalen Hintergrund nun zur bundesdeutschen Linken und ihrem Verhältnis zur Klimagerechtigkeit: Relevante Teile der Linken hierzulande, anders als in vielen anderen OECD-Ländern, haben den Klimawandel zwar als Thema akzeptiert, mit dem man gut den ideologischen Gegner verhauen kann, haben sich aber weitgehend der Frage verweigert, was die Klimakrise konkret für »unsere« Politik bedeuten müsste. Klar, der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Klimazerstörung ist sowohl historisch wie theoretisch so eng, dass eine »marktbasierte« (sprich: kapitalistische) Lösung des Klimaproblems nur noch zum Preis intellektueller Unredlichkeit zu verteidigen ist. Aber wann erreichen wir den Punkt, an dem wir nicht nur Großkonzerne und Regierungen immer wieder darauf hinweisen, aus ihrem »Business as Usual« herauszukommen – wann finden das Klimachaos und das mit ihr einhergehende globale Unrecht wirklich Eingang in »unsere«, in linke Politik?
Um nicht immer wieder an den gleichen Punkten ansetzen zu müssen, möchten wir hier gerne unmissverständlich und explizit unsere Position formulieren, in der Hoffnung, so endlich eine wirkliche Debatte anzustoßen. Denn für uns ist nicht diskutabel, ob der Klimawandel die drängendste globale (Un-)Gerechtigkeitsfrage unserer Zeit ist. Für uns ist deshalb auch nicht verhandelbar, dass das Verbrennen fossiler Brennstoffe die globale Ungerechtigkeit beschleunigt – und vor allem im globalen Norden sofort enden muss. In dem immer wieder benannten, aber nie wirklich ausdiskutierten Gerechtigkeitsdilemma von »Industriearbeitsplätze in Deutschland sichern vs. Vernichtung der Lebensgrundlagen andernorts mindern« sagen wir: Im Zweifel für den Erhalt der Lebensgrundlagen, im Zweifel für die Klimagerechtigkeit!
Wir sagen nicht, dass uns die Angestellten der deutschen Kohleindustrie egal sind. Angesichts der Dringlichkeit der Krise möchten wir jedoch weder uns noch irgendwem anders vorgaukeln, das genannte Gerechtigkeitsdilemma sei für alle zufriedenstellend aufzulösen – weshalb wir im Rahmen des Dilemmas eine Entscheidung treffen. Wir sind überzeugt, dass Deutschland »seinen« Kohlearbeiter*innen einen umgehenden (und trotzdem so sozial verträglich wie möglich ausgestalteten) Kohleausstieg zumuten muss, wenn dadurch vermieden wird, dass ganze Regionen im Globalen Süden über Jahrzehnte oder Jahrhunderte nicht mehr landwirtschaftlich zu nutzen sind – oder eben das Weltklima einfach umkippt und vollkommen chaotisch wird.
Auf dieser Feststellung – im Zweifel für die Klimagerechtigkeit – aufbauend spielen wir deshalb den Ball an jene zurück, die in der Bewahrung deutscher Industriearbeitsplätze ein mindestens genauso dringendes Problem sehen, wie in der Bewahrung des Weltklimas. Es folgen zwei Fragen, die zur Anregung der Debatte beitragen sollen:
Erstens, was ist die Rolle und Position von Industriearbeiter*innen im globalen Norden in einem möglichen gesellschaftlichen Bündnis für eine sozial-ökologische Transformation? Velten Schäfer beschreibt die Kohlearbeiter*innen als »ein Milieu …, das einmal Avantgarde der Arbeiterkultur war«. Mit unserer Frage möchten wir den Fokus darauf verschieben, was die Kohleindustrie heute ist, welche Rolle ihre Angestellten heute einnehmen. Denn: eine Kritik des fossilen Kapitals muss auch eine Kritik der Arbeit im fossilen Kapital sein.
Lesen Sie auch den Beitrag von Velten Schäfer: »Identitätsbasteleien – Über die Klassengestik der linksradikalen Klimaschutzbewegung«
Ohne Kohlearbeiter (und vielleicht ein paar Kohlearbeiterinnen) hätte das fossile Kapital nicht das Klima zerstören können. Wenn Velten Schäfer von der ruhmreichen Geschichte der Kohlearbeiter und ihrer Kämpfe redet, lässt er aus den Augen, dass im Hier und Jetzt die entscheidende Frage ist: Welche gesellschaftlichen Gruppen können sich heute um progressive Siege verdient machen? Angesichts der Tatsache, dass Industrieproduktion und mithin -arbeit einen großen ökologischen Fußabdruck aufweist; und angesichts der Tatsache, dass die negativen Effekte dieser Arbeit vor allem von Menschen im globalen Süden gefühlt werden, dass Industriearbeit im globalen Norden also das Paradebeispiel der Externalisierungsgesellschaft (Stephan Lessenich) darstellt – was ist dann, schön materialistisch durchdekliniert, die politische Rolle der IG BCE oder anderer Industriegewerkschaften? Stehen sie auf Seiten des fossilistischen Kapitals – oder auf der Seite einer zukunftsorientierten, linken (mithin internationalistischen) Politik?
Zweitens, wie sieht‘s mit der Zeitlichkeit linker Praxis aus? Früher waren wir sicher, dass wir die letzte Schlacht gewinnen würden, dass am Ende irgendwie die Emanzipation, die Revolution, gar der Sozialismus/Kommunismus warten würde. Das alles sieht aber anders aus, wenn man die Öko- und besonders die Klimafrage dazuschaltet. In den Worten des US-Klimaaktivisten Bill McKibben sieht die Situation so aus: »‘Das dauert noch ein Bisschen, aber am Ende werden wir gewinnen‘ – das trifft auf die meisten politischen Kämpfe zu, aber nicht auf den Klimawandel. Wenn wir den Kampf ums Klima nicht sehr schnell gewinnen, werden wir nie gewinnen.« Daher die Frage an Herrn Schäfer und all diejenigen, die der Meinung sind, man dürfe nicht zu schnell Arbeitsplätze für Klimagerechtigkeit opfern: Nehmen Sie diesen Zeitdruck wahr? Nehmen Sie ihn ernst? Wenn nein, wieso nicht? Und wenn ja: Wie würden Sie darauf politisch antworten?
Und zum Schluss eine Bitte: Könnten Sie sich, trotz Hitzewelle und Urlaubszeit, mit der Antwort beeilen? Wie schon gesagt: Die Zeit drängt ein bisschen.
Hannes Lindenberg ist aktiv im Bündnis Ende Gelände und der globalen Bewegung für Klimagerechtigkeit. Tadzio Müller arbeitet als Referent für Klimagerechtigkeit und Energiedemokratie für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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