Weltrekorde mit Verspätung

Bei der Para-EM in Berlin zeigen sich zunächst nur die Sportler in Bestform

Friedhelm Julius Beucher kann man getrost als einen ehrlichen Menschen bezeichnen. In solch öffentlichen Sphären, in denen der 72-Jährige in der Regel verkehrt, ist das eher eine Seltenheit. Wo andere nach Ausreden suchen würden, sagt er am Montagabend deutlich: »Bei all den Karten, die wir vorher rausgehauen haben und den vielen Medienberichten, ist diese Zuschauerzahl enttäuschend.« Beucher ist Präsident des Deutschen Behindertensportbunds und damit auch mitverantwortlich für den Erfolg der Para-Leichtathletik-EM, die an diesem Montagabend in Berlin gerade eröffnet wurde. 5000 Zuschauer seien angeblich vorher erwartet worden, nun sitzen neben vielen Athleten und Funktionären nur ein paar Hundert auf der Haupttribüne des Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportparks. Es ist nicht der EM-Start, den sich die Organisatoren gewünscht haben.

Dabei ist sportlich viel zu sehen, wenn man denn mit etwas Glück gerade in die richtige Richtung schaut. Fünf Weltrekorde, zwei Europarekorde und vier Meisterschaftsbestleistungen werden geboten, sie alle live zu sehen, ist jedoch nicht so einfach. Um 17.30 Uhr beginnen vier Entscheidungen quasi gleichzeitig: Ein Weitspringen, dazu Kugelstoßen, Speer- und Diskuswerfen. Nach und nach werden die Athleten vom Stadionsprecher vorgestellt, doch längst wird nebenher gerannt, geworfen und gesprungen. So lässt der kleinwüchsige Pole Bartosz Tyszkowski die Kugel auf 14,03 Meter fliegen, ohne zuvor einmal präsentiert worden zu sein. Ein Weltrekord, doch kaum einer hat hingeschaut. Dem Sprecher fällt es erst nach fünf Minuten beim Blick auf die Ergebnismonitore auf.

Tyszkowskis deutscher Kontrahent Niko Kappel, der seinen Weltrekord verlor, kann diese Leistung nicht kontern. Erst im Juni hat er ebenfalls die 14-Meter-Marke geknackt, heute kommt er nicht mal auf 13. »Das ist schon sehr enttäuschend, auch wenn ich noch Silber gewonnen habe. Das ist weit weg von meinen Möglichkeiten, doch ich konnte nie richtig zünden«, sagt Kappl dem »nd« später.

Für Tyszkowski, der im letzten Versuch sogar noch 14,04 Meter schafft, ist das Vergnügen besonders groß. »Dass ich in Deutschland, bei Niko zu Hause gewinne, macht es umso schöner. Ich habe etwas mehr Gegenwehr von ihm erwartet«, sagt der Pole. Der Sieg allein reichte ihm nicht einmal. »Ich wollte Europameister werden, aber der Weltrekord war mir noch wichtiger.«

Marlene van Gansewinkel hatte sich »nur« den Titel vorgenommen. »Ich wollte einfach gewinnen«, sagt die 23-jährige Holländerin. Doch auch bei ihr steht nach 100 Metern Vollsprint ein Weltrekord auf der Anzeigetafel: 12,85 Sekunden. »Ich bin vor Kurzem bei zu starkem Rückenwind schon so eine Zeit gelaufen, daher wusste ich, dass ich schnell bin. Ich weiß aber auch, dass dieser Weltrekord sicher nicht lange bestehen bleibt. Der Sport entwickelt sich ständig weiter, und die Prothesen auch.«

Da Irmgard Bensusan mit einer anderen Behinderung hinter der Niederländerin ins Ziel läuft, darf sich die Deutsche in der Klasse T44 über einen neuen Meisterschaftsrekord freuen, Gold bleibt aber bei van Gansewinkel (T64). Gleich drei verschiedene Klassen wurden hier zusammengelegt. Erklärungen dazu werden dem Zuschauer nicht gegeben. Die Behinderungen sollen nicht im Vordergrund stehen, sondern die sportlichen Leistungen. Das ist verständlich, doch so bleiben Fragen offen, auch die nach der Fairness.

Manch andere Starterfelder sind dafür kleiner und trotzdem in ihren Leistungen sehr unterschiedlich besetzt. Die Schweizerin Manuela Schär bleibt über 5000 Meter im Rollstuhl zwar eineinhalb Minuten über ihrem Weltrekord, und doch überrundet sie alle Kontrahentinnen. Im Diskuswurf der Klasse T53 treten nur drei Frauen an - alle aus der Ukraine. Weil nicht drei verschiedene Nationen am Start sind, werden keine Medaillen vergeben. Dabei wirft Zoia Ovsii Europarekord in der Unterklasse T51, Jana Lebedjewa mit 14,93 Meter sogar Weltrekord. Weil kein anderes Land Starterinnen stellen will, soll das nun kein Gold, Silber oder Bronze wert sein? Auch diesen Weltrekord verpasst der Stadionsprecher übrigens, ebenso den der polnischen Kugelstoßerin Lucyna Kornobys. Am Ende des Abends wirft der Serbe Nebojsa Duric den Diskus noch 39,84 weit - auch das ein neuer Weltrekord.

Der Parasport ist offensichtlich noch lange nicht an seine Grenzen gestoßen. Das beweist auch die einzige deutsche Europameisterin des Abends, Lindy Ave. Sie steigert ihre eigene Bestleistung über 400 Meter in 1:04,12 min um fast drei Sekunden. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich gewinne«, sagt sie später. Auf dem Papier war die Britin Ali Smith schneller einzuschätzen, doch Ave hat sich ihr Rennen gut eingeteilt. »Diesmal bin ich am Ende nicht wieder eingebrochen«, sagt sie. Es war tatsächlich erst ihr zweites 400-Meter-Rennen überhaupt, und doch ist sie jetzt schon Europameisterin.

Das besänftigt dann auch Friedhelm Julius Beucher auf der Ehrentribüne, der eigentlich auf Kappl als ersten deutschen Sieger getippt hatte. So richtig fröhlich wirkte der Verbandschef aber immer noch nicht. Er fragt sich, was aus den 4000 Karten wird, die an Schulklassen in der Region vergeben worden sind. Ob die in den kommenden genutzt werden, ist fraglich. Montag war erster Schultag in Berlin. Kaum ein Lehrer wird gleich in der ersten Woche einen Wandertag ins Stadion ansetzen. Selbst wenn es viel zu sehen gibt.

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