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Nach dem seltsamen Sitzkrieg
Das erste Buch von Willy Brandt befasste sich mit den Kriegszielen der Großmächte und dem neuen Europa
Was hätte Willy Brandt zum desolaten Zustand von Europa heute gesagt? Zum erstarkenden Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, zur Festungsmentalität und Abschottung, zu Eifersüchteleien, Missgunst, Egoismen, Hass und Zwietracht? Er hätte sich die Haare gerauft. Sprachlos wäre er nicht geblieben. Brandt hätte den heutigen Entscheidungsträgern auf nationaler wie auf EU-Ebene kräftig die Leviten gelesen.
• Willy Brandt: Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa.
J.H. W. Dietz, 147 S., br., 18 €.
Das erste politische Buch des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers und langjährigen Vorsitzenden der Sozialistischen Internationale beinhaltet seine Vision eines neuen Europas. Geschrieben im norwegischen Exil, sollte es am 9. April 1940 auf den Buchmarkt erscheinen, wie Einhart Lorenz weiß. Am Vortag landete zur Mittagsstunde das erste Exemplar noch auf Brandts Schreibtisch. Keine 24 Stunden später aber überfiel Hitlerdeutschland das neutrale Norwegen; Brandt musste erneut fliehen. Im Gefolge der Wehrmachtssoldaten kam die Gestapo. Sie besetzte den Tiden-Verlag in Oslo, beschlagnahmte dort alle Exemplare von Brandts Erstlingswerk »Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa« und ließ sie vernichten. Das Marionettenregime von Hitlers Gnaden, die Regierung Vidkun Quisling, setzte es sogleich auf ihre Liste verbotener Literatur. Vorwortschreiber Lorenz vermutet, dass weniger als zehn Exemplare den Krieg »überlebten«.
Dank der Stiftung »Bundeskanzler Willy Brandt« ist Brandts Einstieg in die politische Publizistik jenseits des Tagesgeschäfts nunmehr erstmalig in seiner ursprünglichen, vollständigen Fassung zu lesen. Schon zuvor hatte Brandt neben seinen Vorträgen vor Osloer Arbeitern sowie in Jugend- und Bildungsvereinen und an der Abendhochschule fleißig geschrieben, Artikel für Tageszeitungen und Zeitschriften der Partei sowie zwei kritische Broschüren über die Komintern und die Außenpolitik der Sowjetunion verfasst. Es wird manchen Leser sicher verwundern, in Brandts Buch die Auffassung zu lesen, dass es sich bei dem am 1. September 1939 durch den Überfall auf Polen begonnenen Krieg zwischen Hitlerdeutschland sowie England und Frankreich um eine »imperialistische Auseinandersetzung« handele. Diese Ansicht teilte er mit der damaligen Kremlführung. Keinen Zweifel lässt Brandt aber daran, dass der Krieg durch die aggressive Politik Nazideutschlands entfesselt worden ist.
Überraschend ist, dass bereits Brandt, der zunächst auf den Ersten Weltkrieg, die Kriegsschuldfrage 1914 und die nach 1918 ungesühnt gebliebenen Kriegsverbrechen eingeht, das heute wieder gern von Historikern zitierte Bild vom Dreißigjährigen Krieg bemüht, wenn er den Bogen vom ersten europäischen Völkerschlachten zu 1939 schlägt. Brandt entlarvt Hitlers Friedensreden als zynische Demagogie, setzt sich aber ebenso kritisch mit den halbherzigen Beteuerungen in London und Paris auseinander, dem Hitlerismus die Stirn zu bieten. Ungeachtet des Beistandspaktes ließen die westlichen Demokratien Polen im Stich - in die Analen der Geschichte ging dieses Nichtstun als Sitzkrieg respektive »Drôle de guerre« oder »Phoney War« ein, der erst mit dem »Westfeldzug« der Wehrmacht am 10. Mai 1940 beendet wurde. Zuvor hatten Großbritannien und Frankreich schon 1938 in München die Tschechoslowakei verraten.
»Die Sowjetunion hat in der ersten Kriegsphase eine merkwürdige Rolle gespielt«, bemerkt Brandt, verweist auf Moskauer Versicherungen, neutral zu bleiben, dem jedoch der Freundschaftspakt mit Deutschland, der Einmarsch in Ostpolen und der Winterkrieg gegen Finnland widersprachen. Nach Hitler, Chamberlain und Daladier seziert Brandt die Reden von Molotow. Gründlich hat Brandt auch die ihm zugängliche Presse studiert. Er zitiert aus dem britischen »Economist« vom 20. Oktober 1939, der als Prinzipien eines möglichen Friedens nannte: keine Zerstückelung Deutschlands, keine Reparationsleistungen, gleiche Rechte für alle Nationen und Garantien für das freie Wort. Sympathisch sind dem 27-jährigen deutschen Emigranten offenkundig die Vorstellungen des englischen Schriftstellers H.G. Wells, der »eine neue und schöne Version der sozialistischen Ansicht von Krieg und Frieden« vertrat. Wells forderte ein »Grundgesetz für die Menschheit in der ganzen Welt«, das politische und soziale Rechte für alle Menschen fixieren sollte.
Abschließend skizziert Brandt seine eigenen Überlegungen. »Ein gerechter Frieden ist unvereinbar mit der Forderung nach Annexionen und Okkupationen.« Da ist er bei Lenin. Auch hinsichtlich der Kolonialfrage. Brandt betont: »Zum Kampf für den neuen Frieden gehört der Kampf gegen die Reaktion und Unterdrückung in jedem einzelnen Land. Die Arbeit für eine neue nationale Gesellschaft bildet die Grundlage eines neuen Europas und einer neuen Welt.«
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