Blutungen mit Quitten stillen

Marburger Institut zur Geschichte der Pharmazie erforscht traditionelle Heilpflanzen unter anderem aus der Volksmedizin

  • Stefanie Walter
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Heilpflanzengarten der Marburger Universität hat der Herbst Einzug gehalten. Unter dem Quittenbaum sammeln sich die Früchte, die Blätter der Maiglöckchen färben sich gelb. Kerstin Grothusheitkamp geht zielstrebig zu zwei mannshohen Büschen, die voller verführerischer, blauschwarzer Beeren hängen. »Essen sollten man die aber nicht«, warnt die Wissenschaftlerin.

Die Apothekerin untersucht gerade für ihre Doktorarbeit historische Heilpflanzen, die früher in der Krebsmedizin verwendet wurden. Die in Amerika heimische Kermesbeere mit den blauschwarzen Früchten gehört dazu. Grothusheitkamp forscht am Marburger Institut für Geschichte der Pharmazie, einer nach eigenen Angaben einzigartigen Einrichtung im deutschsprachigen Raum.

Seit Jahrtausenden verwenden die Menschen Heilpflanzen, um Krankheiten zu kurieren. Schon der römische Naturforscher Plinius, der 79 nach Christus beim Ausbruch des Vesuvs starb, gab Hinweise auf die medizinische Verwendung von Pflanzen. Generationen von Ärzten und Naturforschern schrieben das Wissen der antiken Autoren fort.

In den mittelalterlichen Klöstern pflegten Mönche die Tradition der Pflanzenheilkunde - die Klostermedizin entstand. Das älteste in Deutschland erhaltene Werk der Klostermedizin ist das Lorscher Arzneibuch, das heute zum Weltdokumentenerbe gehört. Niedergeschrieben Ende des 8. Jahrhunderts, enthält es mehrere Rezeptsammlungen: Salben, Öle, Pflaster, ein »Antibiotikum« auf Basis von Schafdung, Honig zur Behandlung tiefer Wunden.

»Arzneipflanzen waren eine Zeit lang in Deutschland außer Mode gekommen«, erklärt der Direktor des Instituts für Geschichte der Pharmazie, Christoph Friedrich. Heute blickten viele Patienten und Ärzte wieder neu auf die Pflanzenmedizin. Doch längst nicht alles, was traditionell angewendet wurde, ist auch wirksam. Grothusheitkamp läuft ein paar Schritte durch den verzweigten Heilpflanzengarten und bleibt vor einer in der Sommerdürre vertrockneten Pflanze stehen: ein Gefleckter Schierling, der in alten Quellen als Anti-Krebs-Mittel auftaucht. »Giftig! Nicht berühren« warnt ein Schild. Erstaunliches Ergebnis ihrer Forschungen sei: »Die Menschen dachten, dass man gegen so schlimme Krankheiten wie Krebs stark giftige Pflanzen nehmen müsste.«

In seinem Büro greift Institutsdirektor Friedrich zu einem Buch, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Autor Johannes Müller untersuchte für seine Doktorarbeit Heilpflanzen in der arabischen medizinischen Literatur, etwa die Verwendung von Henna, Myrte und Koriander als »Arzneidrogen«. Darunter verstehen Pharmazeuten Pflanzen oder Teile von Pflanzen und auch Tieren, die als Arzneimittel verwendet werden, wie die Blüte der Kamille. »Unsere These ist: Wenn Arzneidrogen über viele Jahrhunderte immer bei bestimmten Indikationen verwendet wurden, muss da was dran sein«, sagt Friedrich.

Wenn sie ein solches Potenzial sehen, schlagen die Forscher vom In-stitut der Geschichte der Pharmazie naturwissenschaftlich arbeitenden Pharmazeuten die Pflanzen zur Untersuchung vor. Grothusheitkamp entdeckte zum Beispiel die in Nordamerika vorkommende Kanadische Gelbwurz, in den historischen Quellen als Anti-Krebs-Mittel genannt. Zu der Pflanze gibt es nach ihren Angaben aktuelle wissenschaftliche Studien, die auf ein Anti-Krebs-Potenzial schließen lassen. Die Herstellung von wirksamen Phytopharmaka, also pflanzlicher Arzneimittel, sei allerdings »nicht einfach und nicht so günstig«, sagt Grothusheitkamp. Und Herumexperimentieren ist bei so schweren Krankheiten wie Krebs undenkbar.

Meistens, so steht es in den historischen Quellen, starben die mit traditionellen Pflanzen behandelten Krebspatienten schnell an der Erkrankung. Schon Zeitgenossen zweifelten zum Beispiel an der Wirkung sogenannter Schierlingspillen, wie sie der Leibarzt der österreichischen Kaiserin Maria Theresia, Anton von Störck, seinen Patienten im 18. Jahrhundert gegen die Krebsgeschwüre verabreichte.

Viele Pflanzen verwenden die Menschen einfach seit Jahrhunderten in der Volksmedizin ohne wissenschaftliche Studien und Nachweise. Johannes Müller etwa stieß auf die medizinische Verwendung von Henna, heute vor allem als Haarfärbemittel bekannt. Die Pflanze finde bis heute im arabischen Raum eine medizinische Anwendung, schreibt er in seiner Arbeit: Eine Umfrage in Saudi-Arabien habe ergeben, dass zwölf Prozent der befragten Diabetiker Zubereitungen aus gepulverten Hennablättern auf ihren diabetischen Fuß auftragen.

Im Marburger Heilpflanzengarten wachsen Huflattich, Estragon, Hafer, Baldrian, Dill, Römischer Bertram. Quitten verwendete schon der griechische Arzt Hippokrates in der Antike als blutstillendes Mittel, Thymian wirkt schleimlösend bei Husten. Vieles, was in der Vergangenheit beschrieben wurde, sei durch moderne Studien bestätigt worden, sagt Grothusheitkamp. Das Potenzial sei riesig, viele Stoffe seien noch unerforscht. epd/nd

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