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Auf das Licht folgten die Schatten
Moische Kulbaks Familiensaga «Die Selmenianer» über eine jüdische Familie nach der Oktoberrevolution
Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung« - mit Lenins Losung beginnt auch in Moische Kulbaks Roman »Die Selmenianer« die neue Zeit. Eine jüdische Familiensippe im Minsk der 1920er Jahre: die Selmenianer und ihr Rebsehof, kleine Handwerker und Arbeiter allesamt. Revolution und Bürgerkrieg sind vorbei, der Aufbau der neuen Ordnung ist im vollen Gange. Bere, einer der Jungen, beschließt: Der Hof wird elektrifiziert. Die Alten murren: »Wir brauchen deine Elektrizität nicht«, die »ist nur was für feine Leute«. Vergebens. »Ein paar Tage später kam in den Abendstunden die Elektrizität an … Tausend kleine Schatten, die seit Generationen an den Wänden gehangen hatten, wurden plötzlich wie mit einem Besen hinausgekehrt.« Das Licht wird zur Aufklärung. Doch als die Großmutter stirbt, bittet sie, das elektrische Licht zu löschen: »Bei einem solchen Feuer könne sie nicht sterben.«
Mit Witz und Komik schildert Kulbak, wie das neue Leben in die traditionelle Schtetl-Welt bricht. Er zeigt es als Generationenkonflikt. Die Jugend stellt sich auf die Seite des Neuen, des Sozialismus: Sie studiert, liest Marx, will von den alten religiösen Ritualen nichts mehr wissen. Bere nennt seinen Sohn Marat nach dem französischen Revolutionär. Sein Bruder Falke führt auf dem Hof das Radio ein. Die Alten schauen dem Treiben der Jugend, dieser »Nichtsnutze«, misstrauisch zu. Bei jeder Neuerung seufzen sie: »neues Unheil«. Doch während die einen an den Traditionen festhalten, öffnen sich andere dem Neuen. Beres Vater, Onkel Itsche, erklärt, er sei durchaus für die Sowjetmacht, und schneidet sich Stück für sein Stück den traditionellen Bart ab - ohne sehe er auch jünger aus. »Aber alles auf einmal, das geht nicht!« Es ist dabei nicht allein die »Sowjetisierung«, die die alte Lebensweise auflöst. Es ist die Moderne. Kulbak zeigt seine Selmenianer im Aufbruch zwischen Tradition und Fortschritt. Die Revolution vollendet die jüdische Emanzipation. Die Bewahrung der Traditionen hat daneben keinen Platz mehr. Alle Figuren im Roman, die an ihnen festhalten, sterben. Mit stiller Trauer lässt Kulbak auf den Untergang des Alten blicken.
Moische Kulbak, 1896 in der Nähe von Wilna geboren, war nach der Revolution 1917 zunächst als Lyriker aufgetreten und rasch zum Star der jungen jiddischen Literatur geworden, besonders unter der Jugend. Im Roman zitiert die junge Tonke eines seiner populärsten Gedichte, »Die Stadt«, das die Oktoberrevolution begrüßt: »Es gibt ein Gedicht des selmenianischen Dichters Kulbak, das mir nicht aus dem Kopf gehen will.« 1928 zog Kulbak aus dem damals polnischen Wilna ins sowjetische Minsk. Die junge Sowjetunion förderte die jiddische Kultur. Jiddisch war eine der vier Staatssprachen Weißrusslands, es gab jiddische Schulen, Theater, Verlage, Zeitschriften. Die jiddische Literatur schien hier zu neuer Blüte zu kommen. Und Minsk empfing den Dichter mit offenen Armen.
»Die Selmenianer« erschien als monatlicher Fortsetzungsroman ab 1929 in der jiddischen Literaturzeitschrift Stern. Der Roman wird heute zumeist als »traurige Satire über die Sowjetisierung« und Revolutionskritik gesehen, als allegorische Chronik eines Untergangs. Doch das hat wohl mehr mit unserer heutigen Sicht auf die vernichtete ostjüdische Welt und mit dem Wissen um Kulbaks Schicksal zu tun. Bei aller Melancholie über die Auflösung der Traditionen erzählt der erste Teil in für die Zeit typischer Weise vom Aufbau des Sozialismus und vom Konflikt zwischen Altem und Neuem. Kulbak beschreibt schnurrig die neuen Errungenschaften: die Modernisierung des Lebens mit Elektrizität, Radio, Kino, die neuen Häusern und Fabriken. Er zeigt dabei beide Seiten, die Jungen und die Alten, mit Ironie und Sympathie.
Im zweiten, 1933/34 erschienenen Teil jedoch verfliegt diese Heiterkeit. Das Ende des traditionellen Lebens wirkt zunehmend verzweifelt, das Neue düster. Verfall und Tod dominieren. Der Jugend, im ersten Teil voller Elan, gelingt es nicht, Zukunft zu schaffen. Man ahnt die Folgen des Kurswechsels in der Nationalitätenpolitik Anfang der 1930er Jahre. Die Förderung der jiddischen Kultur war vorbei; sie wurde nunmehr verurteilt als »jüdischer Partikularismus«. Auch Kulbak wurde kritisiert, dass seinen »Selmenianern« das richtige Bewusstsein fehle: Das Jüdische sei für sie stärker als der Sozialismus. Kulbak sucht, sie anzupassen. Doch seine Figuren werden keine sozialistischen Helden. Im Gegenteil: Die radikalen Parteigänger der Sowjetmacht wie Tonke erscheinen zweifelhaft und ihr Leben leer. Man sympathisiert als Leser mit denen, die die untergehende jüdische Kultur vertreten. Ihr Schicksal traf wenig später auch Kulbak. Die Kritik an den »Selmenianern« war der Auftakt zu seinem tragischen Ende. 1937 wurde er verhaftet und erschossen.
In der DDR erschien 1973 der erste Teil des Romans auf Deutsch; bei Volk und Welt, übersetzt von Max Reich. Mit der jetzigen Ausgabe liegen nun erstmals beide Teile vor. Im Vergleich zur Reich-Übersetzung hebt die neue von Niki Graça und Esther Alexander-Ihme sprachlich das Jüdische hervor. Doch scheint mir Reichs bildhafter und auch genauer den Ton der Zeit zu erfassen; so heißt es z. B. bei Reich »elektrifizieren«, in der neuen »mit Strom versorgen«. Beigefügt ist ein Nachwort von Susanne Klingenstein zu Leben und Werk von Kulbak. Dieses ist in den Fakten sehr informativ; die Deutungen sind jedoch zu hinterfragen.
Neben den »Selmenianern« erschienen in der letzten Zeit weitere Werke von Moische Kulbak auf Deutsch: der Revolutionsroman »Montag« und der Roman »Der Messias vom Stamme Efraim«, die Geschichte eines plebejischen Erlösers (eine Neuauflage der Volk-und-Welt-Ausgabe von 1996) sowie der Gedichtzyklus über Berlin »Childe Harold aus Disna«. Gelegenheit, eine der großen Stimmen der jiddischen Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts wiederzuentdecken.
Moische Kulbak: Die Selmenianer. Roman. Aus dem Jiddischen von Niki Graça und Esther Alexander-Ihme. Die Andere Bibliothek, 397 S., geb., 42 €.
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