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Abseits von Mainstream und Nostalgie

Der Revolutionsforscher Walter Schmidt berichtet über sein Leben und die Entwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft

  • Jürgen Hofmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Für jeden, «der redlich und ehrlich mit der Wissenschaft und seiner eigenen Vergangenheit» umgehe, sei «kritische Analyse unumgänglich», betont Walter Schmidt. Er weigere sich aber den gewünschten Totalverriss« mitzumachen. Er wolle »vielmehr zugleich all das berücksichtigt wissen, was an Leistungen und richtigen Erkenntnissen gewonnen worden war«.

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Walter Schmidt: Erinnerungen eines deutschen Historikers. Vom schlesischen Auras an der Oder übers vogtländische Greiz und thüringische Jena nach Berlin.
Trafo-Verlag, 558 S., geb., 29,80 €.

Der Autor, der sich hier zu Wort meldet, war an vielen, Richtung bestimmenden Diskussionen und Projekten der Geschichtswissenschaft der DDR beteiligt, oft sogar als verantwortlicher Leiter. Hier reflektiert ein Insider die Prozesse und seinen Anteil daran. Walter Schmidt (Jg. 1930) steht für die Generation, der nach dem verheerenden Krieg die Chance und die Aufgabe zuteil wurde, Neues aufzubauen. Den meisten war dies nicht in die Wiege gelegt. Sie kamen nicht aus privilegierten Schichten.

Detailliert und bildhaft schildert Schmidt seine Herkunft und seine Kindheit im schlesischen Auras unweit von Breslau und die Schwierigkeiten seiner Familie, ihm den Besuch einer weiterführenden Privatschule zu ermöglichen. Das wurde noch schwieriger, nachdem sein Vater 1942 verhaftet, wegen »Heimtücke« verurteilt und im Nachgang 1943 wegen »Wehrkraftzersetzung« vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt wurde. Der Ankläger musste in der Bundesrepublik nur einen Bruchteil seiner im Nürnberger Juristenprozess verhängten Strafe absitzen.

Es fällt auf, mit welcher Empathie und Ausgewogenheit Schmidt Familienmitglieder, Mitschüler, Spielgefährten, Lehrer schildert und mit welcher Hartnäckigkeit er deren weiteres Schicksal verfolgt. Das trifft ebenfalls auf die Kommilitonen, Mitarbeiter und Mitstreiter späterer Lebensabschnitte zu. Er verschweigt nicht die Probleme und Konflikte, die sich nach dem Einmarsch der Sowjetarmee und dem Übergang in polnische Verwaltung ergaben. Freundschaften zwischen deutschen und polnischen Jugendlichen kamen in dieser Zeit nicht zustande. Die verordnete Umsiedlung wurde als ungerecht empfunden, auch wenn die Ursachen erahnt oder intellektuell erkannt waren.

Hier stellt sich die Frage nach dem Begriff von Heimat. Prägungen durch Heimat haben eine lange Halbwertzeit. Heimatgefühle sind jedoch nicht statisch, sie können durch neue Erfahrungen überlagert und durch neue Bindungen abgelöst werden. Auf keinen Fall sollte das Thema dem Missbrauch überlassen werden.

In zwei weiteren Kapiteln werden die Umsiedlung, die nachgeholte Oberschule und das Studium in Jena ausführlich abgehandelt. Dabei wird eine weitere Besonderheit der Darstellung deutlich: Sie verknüpft Privates, Familiäres mit Politischem und Wissenschaftshistorischem. Nicht zu überlesen der große Respekt, den er seinem Hochschullehrer Karl Griewank zollt. Auf ihn, dem bürgerlichen Wissenschaftler, und seine Anregungen kommt er immer wieder zurück.

Das umfangreichste Kapitel ist dem Werdegang als Historiker im Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und an der Akademie der Wissenschaften der DDR zwischen 1953 und 1990 gewidmet. Am Institut für Gesellschaftswissenschaften wächst er hinein in Betreuungs- und Lehrverpflichtungen. Später übernimmt er die Leitung des Lehrstuhls Geschichte der Arbeiterbewegung und wird Direktor des gleichnamigen Instituts, nachdem die Einrichtung zur Akademie wurde. Er verhehlt nicht, seine »Parteigläubigkeit« erst 1956 verloren zu haben. In den Jahren in der Berliner Taubenstraße ist er in die Diskussionen um die Periodisierung der deutschen Geschichte, um den Charakter der Novemberrevolution und um die Geschichte der Arbeiterbewegung einbezogen. Sein bevorzugtes Forschungsfeld wird das 19. Jahrhundert. Besonders die Revolution 1848/49 und ihre Wirkungen beschäftigen ihn immer wieder, bis heute. Die illustrierte Geschichte dieser Revolution kann mit Recht als Standardwerk gelten.

Maßgeblich beteiligt ist er an der Historikerdebatte um Erbe und Tradition. Sie vermittelte neue Sichten, ermöglichte erweiterte konzeptionelle Ansätze und öffnete neue Forschungsfelder. Für die geplante zwölfbändige deutsche Geschichte war dies unerlässlich. Der Konfliktstoff offenbarte sich in der Diskussion um Band 7, der die Weimarer Republik behandelte. Einige Diskutanten wollten den Unterschied zwischen einer National- und einer verklärenden KPD-Parteigeschichte nicht akzeptieren.

Selbstkritisch äußert sich Schmidt zur Diskussion um die nationale Frage und zur These von der sozialistischen Nation, bei der er sich exponiert hatte. Er habe die Wirkungen, die von vier Jahrzehnten Eigenentwicklung der DDR ausgingen, überschätzt. Ohne Spuren ist sie, wie wir heute wissen, dennoch nicht geblieben.

Als Mittefünfziger übernimmt er für sechs Jahre die Direktion des Zentralinstituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften. Hier muss er 1989/90 erkennen, dass alle Überlegungen zur Neugestaltung der DDR-Geschichtswissenschaft, den »realen Geschichtsprozessen … mehr oder weniger hinterherliefen«. In schwierigen Verhandlungen konnte wenigstens das Projekt der Marx-Engels-Gesamtausgabe in neue Zuständigkeit überführt und gesichert werden. Walter Schmidt blieb als Gründungsmitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften und »Privatgelehrter« aktiv und produktiv (Siehe Kapitel V).

Wer abseits von Mainstream und Nostalgie an Information über die Entwicklung der ostdeutschen Geschichtswissenschaft interessiert ist, sollte das Buch lesen.

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