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- »November«
Welt ohne Zahnärzte
Die ganze Welt ist kalt: In dem estnischen Schwarzweißfilm »November« regiert die Logik des Märchens
Das hat man auch nicht oft: Ein in seine Bilder unübersehbar schwerverliebter Film, der völlig unprätentiös daherkommt. »November« interessiert sich zuallererst für Stimmungen und Atmosphären, der Plot ist, bis auf Weiteres, egal. Die Körper in dem estnischen Film sind warm und stinkig, der Regen, die Bauten, der Schnee - die ganze Welt ist kalt.
Und Regisseur Rainer Sarnet hat ein Schwarzweiß gefunden, das den eigentlich unbewohnbaren Kosmos seines Films in aller Härte und Schönheit zeigt, ohne dass diese Schönheit etwas beschönigen würde. Wenn das Blut Christi ins Wasser fällt, verteilt es sich im See wie in einer pechschwarzen Lavalampe. So ein Bild ohne Kitsch zu inszenieren, ist eigentlich unmöglich. Sarnet ist es gelungen. Man könnte nahezu jedes Bild einfrieren und sich an die Wand hängen.
Eine Geschichte wird trotzdem erzählt: Estland im 18. Jahrhundert. Der Bauernjunge Hans (Jörgen Liik) verliebt sich in die Tochter des deutschen Barons, der ein riesiges Anwesen bewohnt, während die Dorfbewohner im Elend leben. In Hans wiederum hat die schöne Liina (Rea Lest) sich verguckt. Lieben aber kann in diesem Film keiner, alle scheitern und greifen bald zu letzten Mitteln. Einer mischt zum Beispiel einen Liebestrunk aus Schweiß, Achselhaaren und seiner eigene Scheiße, den er seiner Angebeteten unterzujubeln versucht. Das Ganze fliegt auf. »Das sind echte Gefühle!«, brüllt der Bedienstete, nachdem er den Unglücklichen hinausgeworfen hat. »November« findet immer wieder klare und derbe Bilder für einfache Sachverhalte, hier für einen Mann, der nicht ablassen kann von jemanden, der ihn nicht will.
Die Logik, die in diesem Film regiert, ist die des Märchens und der Sage. In der ersten halben Stunde meint man noch, »November« verlasse sich allzu sehr auf skurrile Einfälle. Gleich in der ersten Minute fliegt eine Kuh durchs Bild. Bald aber spürt man, dass nicht Skurrilität das Ziel ist, sondern die Erschaffung einer Leinwandwelt, in der das mythische Denken bestimmend ist. Die Bauern holen sich Hilfe vom Teufel, der im Tausch für die Seele Kratts hergibt - wundervoll animierte Arbeitsmaschinen. Aber auch ein weiser Schneemann kann ein Kratt sein.
Der Film »November« entzieht sich jeder Genrezuordnung. Witzig ist er auch. Als die Pest das Dorf erreicht, weiß der Bauer Rat: »Zieht eure Hosen aus und zieht sie euch über den Kopf. Die Pest wird denken, wir haben zwei Ärsche und uns nicht anrühren.« Und das Tolle ist: Es funktioniert. Auf so eine Idee wäre das aufgeklärte Denken nie gekommen. Das Ende aber ist dann wieder sehr traurig. Die Freude, die sich nach dem Abspann einstellt, sobald man erneut gewahr wird, dass man in einer Welt lebt, in der es Zahnärzte und Feminismus gibt, durchflutet den Zuschauer dementsprechend heftig.
»November«, Estland 2017. Regie: Rainer Sarnet. 115 Min. Derzeit noch deutschlandweit in ausgewählten Kinos zu sehen.
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