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  • Sauf- und Rauschlehre

Schleifkannen am Himmel

Eine topaktuelle Sauf- und Rauschlehre, entwickelt von Georg Christoph Lichtenberg.

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Vielleicht hat es Gründe, dass die ersten Versuche zu einer echten deutschen Sauf- und Rauschlehre ausgerechnet in Niedersachsen, nämlich in Göttingen unternommen wurden. Es hat Gründe, glaubt mir …

Tatsächlich arbeitet Anfang der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts der Göttinger Aphoristiker und Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg an einer »Methyologie« (griech. »methýein«, »berauscht sein«) oder auch »Pinik« (griech. »pínein«, »trinken«). »Man hat so viele Anweisungen, den Wein recht zu bauen, und noch keine, ihn recht zu trinken«, beklagt Lichtenberg in den »Sudelbüchern«. Dabei gebe es »wenig Dinge in der Welt, die eines Philosophen so würdig sind, als die Flasche«, die durch die »Gurgel eines Liebhabers oder eines Dichters fließt«. Und so sammelt er, ausgehend von einer breiten empirisch-experimentellen Basis, Notizen, Gedankensplitter und Assoziationen, um diese Lücke zu schließen.

Er fragt sich zum Beispiel, wie die Konstitution eines idealen Trinkers beschaffen sein sollte. Vor allem aufgeschlossen und gutmütig. Der Wein »wächst nur gut unter dem Schutz eines sanften Himmels«, »ähnliche Seelen« also »müssen diejenigen haben, die ihn am besten trinken«. Folglich wäre derjenige, »der mehr als eine Bouteille trinkt, ohne entweder französisch oder von seinem Mädchen zu sprechen, ohne mich seiner Freundschaft zu versichern, ohne zu singen, ohne irgend ein kleines Geheimnis zu verraten«, besser beim Wasser geblieben. Ebenso jener Zecher, »der beim vierten Glas mich hitzig fragt, ob ich ihn nicht für einen braven Kerl halte, alle kleinen Scherze krittlich abwägt, kurz der Unglückliche, der beim Wein immer Schläge haben will, und sehr oft auch bekommt«.

Hier spricht ein Verstandestrinker. Von den ordinären »6-Batzen-Wein-Gelagen« will er nichts wissen. Die als Virilitätsbeweis immer gern zur Schau gestellte Kondition, das quantitative Fassungsvermögen ist kein Maßstab für den wahren Methyologen. Der »Herr P.« könne »recht trinken«, erzählt man ihm, »erst zwo Bouteillen Wein und dann 12 Gläser Punsch«. Lichtenberg bleibt unbeeindruckt. »Was will er damit? Wenn ich ihn anders recht verstehe, so dünkt mich, ich könnte alles viel geschwinder tun, was Herr P... tut, wenn ich mir eine Pistole vor den Kopf schösse.«

Dem Mann fehlt die Poesie. Der philosophische Süffel, den Lichtenberg meint, verachtet den »Rausch des Fuhrmanns«, weil er erkannt hat, dass die Trinkerei über den rein »mechanischen« hinaus auch einen »dichterischen Teil« vorweisen kann - ja, wenn man sie als Kunst ernst nehmen will, vorweisen können muss. »Trinken heiße ich mit offenen Sinnen und zur guten Stunde einen Zug tun, der mit einer solchen Zauberkraft auf unser Innerstes auffällt und alle Seelenkräfte zu einem Freudenfeste versammelt, bei dem die strengste Vernunft Feier-Abend macht.« Und der Rausch ist ihm bezeichnenderweise ein »Zustand sanfter Empfindlichkeit, in welchem jedem äußern Eindruck neue unaussprechliche Gedanken korrespondieren«.

Neue Gedanken! Geistige Getränke sind für ihn der Meißel, der die Mauern des Alltagsbewusstseins einreißt und so die Sonne hineinlässt: »Es schadet bei manchen Untersuchungen nicht, sie erst bei einem Räuschchen durchzudenken und dabei aufzuschreiben ... Eine kleine Erhebung durch Wein ist den Sprüngen der Erfündung und dem Ausdruck günstig«. Klar, denn Alkoholika wirken stimulierend, stärken die kombinatorischen Fähigkeiten und können sogar dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. »Man muss zuweilen trinken, um den Ideen, die in eines Gehirn liegen, ... mehr Geschwindigkeit zu geben.«

Über diese wichtige Aufgabe als kognitiver Katalysator hinaus übernimmt der gepflegte Suff aber allemal auch therapeutische und soziale Funktionen. Voller Demut beschreibt Lichtenberg den wohltuend-palliativen Effekt eines »vernünftigen« Rausches: »Trinken, wenn es nicht vor dem fünf und dreißigsten Jahre geschieht, ist nicht so sehr zu tadlen, als sich viele von meinen Lesern vorstellen werden. Dieses ist ohngefähr die Zeit, da der Mensch aus den Irrgängen seines Lebens heraus auf die Ebene tritt in welcher er seine künftige Bahn von nun an offen vor sich hinlaufen sieht. Er ist betrübt, wenn er alsdann erst sieht, dass es die rechte nicht ist, eine andre zu suchen, wenn er nicht sehr gut zu Fuß ist, ist gemeiniglich zu spät. Ist diese Entdeckung mit einer Unruhe verknüpft, so hat man durch die Erfahrung befunden, dass der Wein zuweilen Wunder tut, fünf bis sechs Gläser« geben »dem Menschen die Lage, die er verfehlt hat, das Gesinnungen-System findet alles Äußere mit seinem angenehmsten Stande harmonisch, wo Prospekte verbaut sind, da reißt die Seele ein, und überall schafft sie sich die schönste Perspektive, von dem reinsten rosafarbenen Lichte erhellt«.

So wird die Pinik zum Bestandteil einer heiteren Lebensphilosophie, die selbst der Existenz im Mittelmaß noch angenehme Seiten abgewinnen kann. Nämlich durch »den Genuss seines eignen Selbst, wodurch der philosophische Trinker ... Taten aufwiegt, wovon der Ruf durch Jahrtausende durchhallt«. Wie immer bei Lichtenberg sind seine Gedanken auch in der Theorie des Trinkens fragmentarisch, unsystematisch, eben aphoristisch. Eine wirklich schlüssige »Lehre« lässt sich kaum aus ihnen zusammenbrauen. Zu finden sind sie übrigens in »Schriften und Briefe« Band 3, Hanser, München/Wien 1972, S. 317 ff.).

Weil Lichtenberg aber weiß, »wie bald man mit einer Wissenschaft fertig ist, wenn man einmal die Kunstwörter weg hat«, gibt er seinen Landsleuten immerhin ein »herrliches Hülfsmittel in die Hände« - einen »Patriotischen Beitrag zur Methyologie der Deutschen«, das heißt eine Sammlung von »Redens-Arten, womit die Deutschen die Trunkenheit einer Person andeuten«.

Eine sehr verdienstvolle Sammlung. Hier hat er nämlich mal in annähernder Vollständigkeit zusammengestellt, was die hoch- und niederdeutsche Sprache zum Thema Rausch zu sagen hat: Vom grandiosen »Er sah Schleifkannen am Himmel« bis »He is so dicke as en Swin«. Nur »Voll wie’n Pisspott« fehlt.

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