Von Greifswald bis Nottingham

Trotz Korruption, Milliardenumsätzen und absurdem Spielerzirkus: Man kann den Fußball lieben, findet Christoph Ruf

Es gibt ein Mittel, das man anwenden kann, wenn einem die Welt des Fußballs zuwider wird: Schauen Sie sich Aufnahmen aus der Politik oder aus dem Showbiz an. Oscar-Verleihung, neuer Generalsekretär der CDU, »Deutschland sucht ...«, solche Sachen. Geben Sie sich drei Sekunden Paul Ziemiak oder Gina-Lisa Lohfink, Sie werden sehen, es passieren merkwürdige Dinge. Irgendwann kommt Ihnen selbst Karl-Heinz Rummenigge sympathisch vor.

Den Fußball macht es trotzdem nicht besser, dass er in einer Welt stattfindet, die ähnlich pervertiert ist wie er selbst. Die korrupten Spitzen-Funktionäre, die Unsummen, die sehr junge, sehr unbedarfte Menschen im überhitzten Zirkus verdienen, die Gier, mit der den Fans die Euros aus der Tasche gezogen werden. All das kann man nur abstoßend finden. Und natürlich gibt es den guten alten Rassismus noch. Nicht nur in Chelsea oder Mailand sind die Stadien Petrischalen der Dummheit. Fußball bringt zuverlässig das Schlechteste im Menschen hervor.

Und dennoch möchte ich ihn auch im kommenden Jahr nicht missen. Nicht, weil ich mich auf irgendeinen Verein, irgendein Turnier oder irgendeinen Spieler freuen würde. Sondern weil es auch bei mir so ist, dass ein Drittel meines engeren Freundeskreises und zwei Drittel meines erweiterten aus Leuten besteht, mit denen ich schon mal in einem Stadion war. Viele von denen werde ich 2019 in einem Stadion wiedersehen, mit einigen werde ich mich extra dort verabreden. Wo die auch immer stehen mögen, die Teile stehen ja von Greifswald bis Nottingham überall. Und überall oszillieren um die Stadien einige nette Menschen herum. Viele von ihnen kommen auch zu Buchlesungen. Ich bin im vergangenen Jahr mit einem Buch auf Lesereise gegangen, in dem behauptet wird, dass sich der Fußball gerade sein eigenes Grab schaufelt. Die Diskussionen im Anschluss an die Lesungen unterschieden sich an jedem Abend. Nie hätte ich beispielsweise gedacht, dass man in Gelsenkirchen oder Dortmund beifälliges Nicken erntet, wenn man Oberhausens Präsident Hajo Sommers zitiert, der behauptet, »Die Fans wollen den ehrlichen Fußball, rennen aber zu Schalke und Dortmund, was mit ehrlichem Fußball mal gar nichts zu tun hat, außer, dass die Vereine das entsprechende Image verkaufen.« Doch so war es, es gab beifälliges Nicken von Menschen, die meistens nicht nur eine Dauerkarte ihr eigen nannten, sondern auch auswärts mitfahren, Mitgliedschaft in einem Fanklub natürlich Ehrensache. Ein Widerspruch? Natürlich. Aber eben auch tröstlich. Denn zum Fußball gehen diese Menschen nicht wegen der überbezahlten Stars, die sehen sie allenfalls als Dienstleister. Um einen schönen Tag zu verbringen, brauchen sie die Lewandowskis, Neuers und Kroose nicht.

Zum Fußball gehen sie, weil ihnen das Stadion zum zweiten Wohnzimmer und der Samstag Nachmittag zum Höhepunkt der Woche geworden ist. Ins Stadion gehen auch ihre Freundinnen, Freunde und Kumpel. Dort stehen oder sitzen sie seit Jahren neben ihnen. Dort zelebrieren sie zusammen die gleichen Rituale, jeder weiß vom anderen, welches Stadionlied er hasst und was passieren muss, bis der Kumpel völlig die Fassung verliert. Anders gesagt: Live-Fußball ist deshalb so ein Faszinosum, weil er so vielen Menschen den Höhepunkt der Woche ermöglicht, vielleicht auch kleine, große Fluchten. Damit wohnt Fußball im Übrigen auch etwas Anarchistisches inne, denn am liebsten haben die Mächtigen nicht nur im Fußball ja die Leute, die sich vereinzeln lassen, die ganze Abende vor dem Fernseher verbringen, und sich dort mehrere Stunden in der Woche Werbung und subtilere Formen der Manipulation aussetzen.

Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum so viele Stadion-Fußballfans, allen voran die Ultras, die Millionen so verachten, die sich nur alle zwei Jahre für Fußball interessieren - immer dann, wenn die großen Verbände eine vermögensbildende Maßnahme namens EM oder WM stattfinden lassen. Und tatsächlich erinnerten auch mich im vergangenen Sommer die schwarz-rot-goldenen Massen weniger an Fußballfans als an das, was eingeblendet wird, wenn bei der Helene-Fischer-Nacht in den Öffentlich Rechtlichen ins Publikum geschwenkt wird.

Ich wünsche Ihnen ein prächtiges, gesundes und zufriedenes Jahr 2019. Und: Gehen Sie mal wieder ins Stadion, sie werden dort viele Menschen treffen, die den offiziellen Fußball so negativ sehen wie Sie!

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