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Dunkel, das uns blendet

Deutschlands großer Poet der Untergänge - Heiner Müller wäre heute 90 Jahre alt geworden

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Hyäne war ihm »das Wappentier der Mathematik, sie weiß, dass kein Rest bleiben darf«. Und eine heile Welt galt ihm als das Letzte, »es gibt kein Leben ohne kaputtes Leben. Wenn ich morgens Müsli esse, will ich mich eine Stunde später erschießen. Da trinke ich lieber Benzin zum Frühstück.«

Heiner Müllers Denkart war das Einverständnis mit dem unlösbaren Widerspruch, mit den Verfinsterungen auf allen Seiten, mit der Unbefriedbarkeit von Gewalt - oben und unten, bei Revolution und Reaktion. Der Widerstand der Kunst besteht darin, für wahr zu erklären, was alles falsch ist an dieser Welt. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit werden irgendwann herrschen? Müllers Dichtung hört diese Frage, legt grübelnd den Kopf in den Nacken - und nickt. Ja, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit werden herrschen - aber nur immer als Brandfackel. Utopia bleibt, was Vergangenheit war: Geruch verbrennenden Fleisches. »Der siebenfarbige Hügel/ Gepflügt mit Kugeln mit Leichen bedeckt/ Ist schön wie vor der Schlacht// In den Kriegen die kommen werden/ Erbleichen wird der siebenfarbige Hügel«, schrieb er schon Anfang der sechziger Jahre.

Dieser Dichter entriss Wahrheiten den schützenden Schleier aus Gesinnung. Der bekanntlich noch die größte Bitterkeit mildert - indem der Körper zwar schon durchs Blut watet, das Bewusstsein aber weiter unbeirrbar die Ideale predigt. Der deutsche Idealismus. Müller brach nie zu neuen Ufern auf, weil er diese stets schon besiedelt vorfand. Kam er in seiner Dramatik bis zur »Wolokolamsker Chaussee« oder nach Stalingrad (»Germania«), lungerten dort schon die Nibelungen. Landete er zur Zeit der Französischen Revolution in Jamaika (»Der Auftrag«), war er doch mitten im Sozialismus: Jede Revolution erzeugt in den Befreiern neue - Zerstörer. Und ganz am Ende ein Kapitalismus, »der sich erfolgreich und staunenswert von seinen vermeintlichen Totengräbern, der Arbeiterklasse, emanzipiert«. Eine seiner Prophezeiungen: Wenn die Festung Europa nicht mehr zu halten sei und die Bürgerkriege militante Formen annehmen, »wird es einen strukturellen Stalinismus geben.«

Am 4. November 1989, bei der legendären Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz, hatte Müller provokativ monoton einen Fremdtext vorgelesen: einen Aufruf zu freien Gewerkschaften. Er wurde ausgebuht. Er hatte, da die Massen noch euphorisch heiß auf Demokratie waren, schon den anderen Blick: Er sah bereits den Westen, von dem an diesem Tag niemand etwas wissen wollte. »Die Daumenschrauben sollen angezogen werden. Die Preise werden steigen und die Löhne kaum. Wenn Subventionen wegfallen, trifft das vor allem uns. Der Staat fordert Leistung. Bald wird er mit Entlassung drohen.« Gellende Pfiffe.

Müller sah sich eingespannt »zwischen Eiszeit und Kommunismus«. Der war diesem Dichter das Höchste. Das große Zu-sich-Finden des Menschen. Aber nicht im Sinne jener kollektiv organisierten Erlösung in sozial befriedeter Gemeinschaft (eine Illusion), sondern Kommunismus im Sinne dessen, was jede Selbstwerdung unweigerlich mit sich bringt: Vereinsamung. Wer ganz zu sich kommen darf, wird nie mehr ganz bei den anderen sein. Das bleibt der ewige antikollektive Sprengstoff von Selbst-Verwirklichung. Und kann es das je geben: Schlaraffenländer einer überbordenden Produktivität, die für jeden genügend abwirft? Und wie soll man im Endzustand einer Welt noch selbstreformatorische Kräfte entwickeln? Kants kategorischer Imperativ - ist er am Ende doch nur wieder erfüllbar mit der antreibenden Pistole in der Hand?

Nach dem Fall der Mauer sah der Dichter sich gelähmt inmitten geschmeidiger Langweiler, die an großen runden Tischen die Weltformeln des Ausgleichs suchten. Müller wird nach dem Untergang der DDR zum großen lyrischen Monologisten: verloren der dramatische Stoff; zu Ende das Duell der Blöcke; ausgegangen also das Feuer, das im Theaterschreiber brannte. Die Demokratie? Nur »ein Pyrrhussieg der Utopie«. Nun, nach der Dramatik, schlug die Stunde der Gespräche und Gedichte. Müller hatte in seinen jungen Jahren heitere Aufbaugedichte verfasst, er hat sogar Parteitagssätze Erich Honeckers oratorisch aufbereitet für die Musik Paul Dessaus, er hat eine koreanische Kim-Ir-Sen-Hymne ins Deutsche übersetzt, er bastelte Aktivistenreime, verfasste unbekümmerte Liebeslieder und spröde Lehrgedichte. Aber jetzt wird zum Kern seiner schöngehärteten Lyrik ein einziger zerrender Konflikt: Alles Gute bleibt im Grunde die Kehrseite künftigen Verrats.

Am Schluss - Müller starb 1995 - stehen die großartigen, antikisch befeuerten Langgedichte gegen die elende Welt des Kapitals, gegen die Krankheit, gegen den nahenden Tod. Die DDR hatte ihn gedrückt, so konnte er ein größeres Weltereignis werden als jene, die auf der vermeintlichen Hauptstraße der Geschichte treu in jenem Kreis liefen, den eine Mauer vorzeichnete. Er war am Ende Intendant des Berliner Ensembles; er hatte in Bayreuth Richard Wagner inszeniert; er gab Alexander Kluge grandios funkelnde TV-Interviews (herrliche Szenen des Schweigens auch!). Und: Mit seiner vielstündigen Inszenierung »Hamlet/Hamletmaschine« am Deutschen Theater, der geniale Ulrich Mühe in der Hauptrolle, war ihm ein gemütaussaugendes, berauschendes, folternd wahrhaftiges Porträt jener Lethargie gelungen, die mit dem Zwergstaat DDR auch das Ideendrama des ideologieverführten Menschen verabschiedete. Verabschiedete wohin? Ins »Dunkel, das uns blendet«.

Was in den »Lohndrückern«, im »Bau«, in der »Schlacht«, im »Philoktet« Ausdruck fand, ist ihm früh und unabänderlich angelegt gewesen: das ewige Drama zwischen Aufschwung und Misere. Aufklärung? Eine ununterbrochene Katastrophe. Gerechte Güterverteilung? Ein Welten-Streit, der inzwischen auf noch mehr Elend hinausläuft. Müller schloss vom Gesang des Orpheus auf den politischen Lärm der Megaphone. Die einen zählen die Opfer, die anderen das Geld, unterm Strich bleibt das Nichts.

Zynisch sei er gewesen? Keineswegs. Eher buddhistischen Gemüts. Man nehme nur sein Lächeln. Es gibt Sätze über ihn, die gehen einem nicht aus dem Herzen. Der britische Essayist John Berger: »Man hat dich oft angeklagt, die Dinge zu zerbrechen, aber niemand hat dich je selbst etwas zerbrechen sehen.« Bloß hat er wegen einer Hoffnung, die im Chor gesungen wurde, nie seine wunderbar gelöste Verzweiflung verraten. Finstere Weltsicht? »Was ich beschreiben kann, deprimiert mich nicht.«

Mit der »Umsiedlerin«, 1961 uraufgeführt von B. K. Tragelehn am Karlshorster Studententheater der Hochschule für Ökonomie, erlebt er erstmalig den Aufstand der Zensoren (»als ich aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde, sagte mir der Generalsekretär, nun werde, wenigstens zwei Jahre lang, kein Hund ein Stück Brot von mir nehmen«). Er wird ein DDR-Autor im Westen, vorwiegend dank des hochintelligent naiven Regisseurs Tragelehn, aber auch dank Claus Peymann, Matthias Langhoff, Manfred Karge. Bei Ernst Jünger holt er sich eine »Injektion von Aristokratismus«, er schätzt dessen marmorne Feldherrenkühle weit mehr als etwa das kokett »Monarchische« an Peter Hacks - der sich bei Müllers erwähntem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband als einziger der Stimme enthalten hatte. Hacks baue sich »sein privates Weimar auf und erkläre das dann für allgemeinverbindlich«, so Müller schon 1974.

Schaut man auf Fotografien des rauchend inszenierenden, rauchend redenden, rauchend trinkenden Dichters, so fragt man unwillkürlich, auch etwas traurig und mitfühlend, nach Momenten, in denen ein Mensch wirklich nur sich selber gleicht. Ein zwinkernder Aufspieler und Versteckspieler war er. Der kürzlich verstorbene Wilhelm Genazino hat in einem wunderschönen Essay an die »Hamletmaschine« erinnert, in dem die Regieanweisung zu finden ist: »Zerreißung der Fotografie des Autors«. Genazino meint, mit der Metapher dieser symbolischen Selbstzerstörung versuche Müller der Tatsache zu begegnen, »dass jeder Autor, auch der kritischste, immer auch ein Unterhalter ist, der der Gesellschaft, die er doch nur hat untersuchen oder darstellen wollen, immer auch Material für ihre Zerstreuung liefert«.

In einem seiner Gedichte, »Tristan 1993«, heißt es: »In den Augen meines Kindes las ich/ der zu viel gesehen hat die Frage/ Ob die Welt die Mühe des Lebens noch aufwiegt/ Einen Augenblick eine Schreckensnachricht/ Einen Werbespot lang war ich im Zweifel/ Soll ich ihm ein langes Leben wünschen/ Oder aus Liebe einen frühen Tod«. Wahrhaftiger kann ein Autor nicht sagen, dass er aus einem Jahrhundert kommt, das nie ein Ende haben wird. Heute wäre Heiner Müller, 1929 im sächsischen Eppendorf geboren, 90 Jahre alt geworden.

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