Nie bequem für sein Land

Ein Platz für den Schriftsteller José Saramago

  • Leon Willner, Lissabon
  • Lesedauer: 5 Min.

Portugals hohe Geistliche und Journalisten nannten ihn einen »Ketzer«. Er hatte es gewagt, die geistigen Wurzeln der christlich-abendländischen Kultur ins Zentrum der Handlung zu setzen und diese mit viel Ironie bloßzustellen. Das Evangelium nach Jesus Christus löste einen kulturpolitischen Skandal aus. Saramago war zwar Zeit seines Lebens bekennender Atheist, doch es ging ihm nie primär um die Leugnung Gottes. Vehement lehnte er jegliche Form monolithischer Einheit ab. »Der Vatikan soll sich weiter um seine Gebete kümmern«, donnerte er der Kirche entgegen.

In der Folge ließ die konservative Regierung den Namen Saramagos von der Liste der Kandidaten für den Europäischen Literaturpreis streichen, sah die religiösen Gefühle der katholischen Portugiesen verletzt. Der Schriftsteller, erbost über diesen »Akt der Zensur«, wandte sich von seinem Land ab. Er ging ins Exil, auf die Kanarische Insel Lanzarote. »Wenn so etwas zu Zeiten der Salazar-Diktatur geschehen wäre, hätte ich es ja noch verstanden. In einer Demokratie aber empfand ich diese Zensur als beschämend«, gab er später zu Protokoll.

Nach dem »Ketzer« wurde jetzt ein Platz benannt. Direkt vor der Casa dos Bicos, dem »Haus der Spitzen«, in der die Fundação José Saramago ihren Sitz hat, liegt jetzt der »Largo José Saramago«. Acht Jahre nach seinem Tod ist Saramago endlich im Herzen Lissabons angekommen. Sein Weg dorthin ist genauso von Höhen und Tiefen durchzogen wie »die Stadt der sieben Hügel« selbst. Er beginnt ganz unten.

In dem Dorf Azinhaga in der Mitte Portugals, in dem Saramago 1922 das Licht der Welt erblickte, heißt Saramago zunächst nur »Wilder Rettich«. Ein Standesbeamter hatte seinem Vater den Beinamen des Grundnahrungsmittels der armen Landarbeiter gegeben. Seine Eltern hielten sich in den Latifundien der Großgrundbesitzer über Wasser. Seine Mutter war Analphabetin, wie über 60 Prozent der Portugiesen zu dieser Zeit. Schon bald konnten sie ihrem talentierten Sohn das Gymnasium nicht mehr finanzieren. Sie sollten es nicht erleben, wie ihr José der erste portugiesischsprachige Literaturnobelpreisträger der Geschichte wurde.

Ohne Schulabschluss wurde Saramago Automechaniker, 1969 schloss er sich der damals verbotenen Kommunistischen Partei Portugal an, leistete Widerstand gegen die Diktatur Salazars. Er schaute nicht weg, als seine Landsleute in Angola einen furchtbaren Kolonialkrieg führten. Als im April 1974 die Menschen auf die Straßen strömten und den Soldaten rote Nelken in die Gewehre steckten, zeigte sich Saramago von den Zeichen des Aufbruchs begeistert: »Da drängen die Künstler und Intellektuellen nach vorne an den Bug, sie wollen alle dabei sein«, schreibt er über die Nacht der Nelkenrevolution. In einem Interview erinnert sich der Dichter António Lobo Antunes: »Damals standen fast alle Literaten links und der Kommunistischen Partei nahe. Schließlich war sie die einzige Partei, die dem Faschismus organisiert Widerstand geleistet hatte.« Die Freude der Kulturschaffenden währte nur kurz, ob der Uneinigkeit der Linken wurde der revolutionäre Prozess jäh unterbrochen und konservative und rechte Politiker wurden an die Macht gewählt. Portugal wurde zu einer parlamentarischen Demokratie nach westeuropäischem Vorbild. Doch als sich die meisten Intellektuellen desillusioniert aus dem politischen Leben zurückzogen, nahm Saramagos Karriere erst richtig Fahrt auf.

Im Alter von 54 Jahren wurde Saramago Schriftsteller. Der Durchbruch gelang ihm mit Hoffnung im Alentejo. Darin beschreibt er eindringlich die Erlebnisse und Gedanken der Landarbeiter über vier Generationen und vermittelt dem Leser ihren ganz eigenen Soziolekt. Überhaupt schreibe er nur Romane, da er keine Essays zu schreiben verstehe. »Neben seiner Menschlichkeit haben mich vor allem seine starken Frauenfiguren fasziniert«, erzählt die Saramago-Übersetzerin Marianne Gareis. Der Feminismus ist eines der wichtigsten Elemente seiner Literatur, in seinen Romanen sind es meistens die Frauen, die eine Geschichte vorantreiben. In einem Interview bekannte Saramago, alles Wichtige in seinem Leben habe er von Frauen gelernt.

Saramago trifft den Nerv der Zeit. Auch im großen iberischen Nachbarland Spanien war sein Erfolg riesig, nicht zuletzt, weil er mit der spanischen Journalistin Pilar del Río die Liebe seines Lebens fand. Zugleich blieb der bekennende Kommunist Zeit seines Lebens großer Kritiker der Regierung in Lissabon, war vielen Portugiesen ein Dorn im Auge. »Der Groll, den er gegen sein eigenes Land, gegen die eigene Regierung gehegt hat, schwang immer mit. Das geschah aus einer Enttäuschung heraus«, erzählt Gareis. »Ich weiß, dass es diplomatisch komplizierte Situationen gab, er war seinen Landsleuten gegenüber sehr reserviert. Es ging ja immer um die Frage ›Gehört er uns?‹, den Spaniern oder den Portugiesen?«

Noch heute, etwa 20 Jahre nach der Verleihung des Nobelpreises, ist dieser Konflikt präsent. Sowohl spanische als auch portugiesische Politiker geben sich bei den Ehrungen die Klinke in die Hand. Spricht Spaniens Prämier Pedro Sánchez auf einer Hommage auf Saramago in Lanzarote eine Laudatio, kann sein portugiesischer Kollege António Costa nicht von seiner Seite weichen. Ob ihm die Dauerpräsenz ranghoher Politiker gefallen hätte? »Das wissen wir natürlich nicht«, sagt Ricardo Viel von der Fundação José Saramago. »Wir wissen nur, dass er in Stockholm vom damaligen portugiesischen Präsidenten Jorge Sampaio empfangen wurde.« In der Tat überboten sich Spanien und Portugal schon damals mit Glückwünschen, oft verbunden mit Eifersüchteleien. Die Auflagen seiner Bücher schossen in die Millionen und Portugal brauchte den ehemaligen Nestbeschmutzer auf einmal als Aushängeschild für den oftmals übersehenen Reichtum lusitanischer Literatur. Saramago provozierte, schrieb im Zusammenhang mit palästinensischen Flüchtlingslagern vom »Geist von Auschwitz«. Als einer der wenigen Portugiesen befürworte er eine Union von Spanien und Portugal im Sinne eines iberischen Staates, den Beitritt beider Länder zur EU 1986 lehnte er ab.

Bequem war er nie für sein Land. Saramago hat einmal gesagt, dass Portugal heute ohne den 25. April 1974 genau dasselbe Land wäre. Vielleicht jedoch ein Land ohne »Largo José Saramago«, benannt nach seinem größten verstoßenen Sohn.

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