Plünderungen, Morde, Raub

Seit einem Jahr hält die Türkei mitsamt ihren verbündeten Milizen den nordsyrischen Kanton Afrin besetzt

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 6 Min.

In der ersten Reihe der Demonstration stehen Frauen. Sie tragen Fotos in den Händen, von gefallenen Kämpferinnen und Kämpfern der syrisch-kurdischen Miliz YPG und der Frauenmiliz YPJ, aber auch von verletzten und getöteten Zivilisten. Hinter ihnen reihen sich Zehntausende ein, die genaue Zahl ist schwer zu bestimmen. Die Menge läuft durch Sheba, eine kleine Region nördlich von Aleppo, abgeschnitten im politischen Niemandsland. Der Protestmarsch am 20. Januar richtet sich gegen die anhaltende Besetzung der nordsyrischen Region Afrin.

Ein Jahr und vier Tage ist es her, seit die türkische Armee und mit ihr verbündete islamistische Milizen der »Freien Syrischen Armee« den vormals selbstverwalteten Kanton völkerrechtswidrig angegriffen haben. Die Demonstranten in Sheba sind Vertriebene aus Afrin. Sie leben nun hauptsächlich in Flüchtlingslagern. Ein Jahr ist es an diesem Donnerstag her, dass die Bundesregierung den türkischen Angriff als Akt »legitimer türkischer Sicherheitsinteressen« bezeichnete und damit legitimierte.

Die Bodenoffensive der türkischen Armee gegen Afrin begann am 20. Januar 2018 - mitsamt zahlreichen Rüstungsgütern aus deutscher Produktion. Ankaras Generäle nannten den Eroberungsfeldzug zynisch »Operation Olivenzweig«. Der Olivenanbau ist zentraler Wirtschaftsfaktor in der Region. Man wolle sich gegen Angriffe verteidigen und die Grenzregion von »Terroristen befreien«, lautete die türkische Begründung des Casus Belli. Afrin war zu diesem Zeitpunkt einer der wenigen Orte Syriens, der vom Krieg relativ verschont geblieben war. Afrin hatte »während des Bürgerkriegs für Hunderttausende Binnenflüchtlinge seine Tore geöffnet«, wie Ali Çiçek von Civaka Azad, dem Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, gegenüber »nd« erklärt. Der Bevölkerung ging es verhältnismäßig gut, es gab weder den »Islamischen Staat« noch andere islamistische Gruppen in dem kurdisch geprägten Kanton. Dafür Rätestrukturen, Säkularismus und Frauenquoten in der Verwaltung. Für Angriffe von Afrin aus auf die Türkei gab es vor dem 20. Januar nie Belege.

Voraussetzung der türkischen Invasion war das Einverständnis Russlands, das de facto den Luftraum über den westlichen und südlichen Teilen Syriens kontrolliert. Beobachter vermuteten, dass es eine Art Deal gab: Die Türkei bekam Afrin, das von Russland unterstützte Assad-Regime durfte dafür seine militärischen Einsätze in der von Ankara protegierten syrischen Rebellenprovinz Idlib ausweiten. Die US-Amerikaner, damaliger Verbündeter der SDF - der Syrischen Demokratischen Kräfte, zu denen auch YPG und YPJ gehören -, beschränkten sich darauf, den Kurden nur Sicherheitsgarantien für die Gebiete östlich des Euphrat zu geben. Die Assad-Regierung entsandte eine kleine Gruppe regierungsnaher Milizen zur Verteidigung Afrins, die jedoch militärisch keine Rolle spielten.

Die kurdischen Einheiten leisteten erbitterten Widerstand. Ohne Luftunterstützung und internationale Hilfe zeichnete sich jedoch ab, dass sie auf Dauer unterlegen waren. Mit Zehntausenden Zivilisten zogen sich die YPG und YPJ Mitte März in einen kleinen Streifen nördlich von Aleppo zurück. Die Türkei verkündete am 18. März den Sieg und begann ihre Besetzung des Kantons. Laut dem Türkei-Experten İsmail Küpeli wurden im Rahmen der Offensive über 200 Zivilisten getötet und mehrere Hundert verletzt. Die kurdischen Milizen starteten nach der Einnahme Afrins einen Guerillakrieg gegen die Besatzer.

In der Region Sheba gibt es heute drei Flüchtlingscamps unter Verwaltung des Kurdischen Roten Halbmondes (KRH). Nach Informationen der deutschen Hilfsorganisation medico international, die mit dem KRH zusammenarbeitet, halten sich in den Lagern und umliegenden Dörfern über 100 000 Menschen auf. »Gerade ist die Situation schwierig, weil die Zelte nicht winterfest sind und Krankheiten sich schnell ausbreiten«, sagt die medico-international-Mitarbeiterin Anita Starosta gegenüber »nd«. Auch gebe es keinen direkten Zugang in die Region, die türkische Armee und syrische Truppen hätten das Gebiet eingekreist. Über den Transport von Schwerkranken ins nächstgelegene Krankenhaus würden Vertreter des Regimes ebenso willkürlich entscheiden wie über die Durchfahrt von LKWs mit Nahrungsmitteln und Medizin.

Ali Çiçek von Civaka Azad fügt gegenüber »nd« hinzu: »Wir bekommen mit, dass Familien auseinander gerissen werden.« Ältere Menschen seien oftmals in Afrin geblieben, weil sie sich erhofften, das Eigentum der Familien dort schützen zu können.

Im besetzten Afrin selbst scheint die Lage derweil katastrophal. »Die Menschen sind einer systematischen Unterdrückung ausgesetzt, die sich im Kern durch eine türkische Assimilierungspolitik und erzwungenen demografischen Wandel auszeichnet«, so Çiçek. Ankara siedele demnach bewusst arabisch-sunnitische Dschihadisten und ihre Familien aus anderen Teilen Syriens in der Region an. Die Dagebliebenen würden unter systematischen Festnahmen, Folter und Raub leiden. Entführungen der Bevölkerung gegen Lösegeld seien ein lukratives Geschäft. Laut Ibrahim Murad, dem deutschen Repräsentanten von Rojava, wurden seit Januar 2018 insgesamt 2750 Menschen aus Afrin ermordet und 2609 entführt.

Der Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido, bestätigt diese Informationen: »Selbst vor Mord schrecken die Besatzer nicht zurück.« Infrastruktur und Denkmäler würden zerstört, Dörfer, Berge und Täler bekämen neue Namen in arabischer oder türkischer Sprache. Innerhalb eines Jahres sollen türkische und islamistische Truppen mindestens 32 Schulen in Afrin abgerissen haben, sagt Sido. 318 Schulen, Institute oder Universitäten seien geschlossen worden. Der zentrale Platz der Stadt Afrin soll in »Erdoğan-Platz« umbenannt worden sein. Kurdische Frauen müssten sich mittlerweile verschleiern, Minderheiten wie Yeziden, Christen und Aleviten seien vertrieben worden.

Auch mehren sich Berichte, wonach die Besatzer in großem Umfang Olivenöl stehlen sollen. Nach Angaben der türkischen Linkspartei HDP seien bisher mehr als 50 000 Tonen Öl aus Syrien in die Türkei transportiert worden, viele Plantagen in Afrin habe man zerstört. »Die Menschen aus Afrin haben nur eine Forderung: Sie wollen, dass ihre Heimatstadt, auch wenn sie zerstört und geplündert wurde, endlich von der türkischen Besatzung befreit wird«, sagt Ali Çiçek.

Politiker und Hilfsorganisationen fordern angesichts der Übergriffe Berlin zum Handeln auf. »Die Bundesregierung steht in der Verantwortung, sich für die Rückkehr der Menschen nach Afrin einzusetzen«, sagt Anita Starosta von medico. Zudem müsse man die Türkei unter Druck setzen, aus Afrin abzuziehen, da es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriff gehandelt habe. »Die Bundesregierung muss sich mit Nachdruck dafür einsetzen, dass die Besatzungsmacht Türkei aus der Region Afrin abzieht und nicht weitere Gebiete im Norden Syriens okkupiert«, fordert auch die LINKE-Abgeordnete Sevim Dağdelen.

Berlin hält sich mit einer klaren Einschätzung zurück. »Die Bundesregierung verfügt zur Lage in der Region Afrin nicht über ein vollständiges Bild«, meint eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes gegenüber »nd«. Zur Frage, ob es eine »Besatzung« sei, wollte man sich nicht konkret äußern. »Entscheidend für die Bewertung der Präsenz in Afrin ist, dass die Zivilbevölkerung geschützt und humanitäres Völkerrecht eingehalten wird.« Es seien der Bundesregierung zwar »einzelne Hinweise« über Menschenrechtsverletzungen und Übergriffe bekannt, diese könnten jedoch nicht von »unabhängiger Stelle verifiziert werden«, so die Sprecherin.

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