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Aufgeben ist keine Option
Die nicaraguanische Aktivistin Macarena Hernández sucht in Deutschland Schutz vor Daniel Ortegas Regierung.
Macarena Hernández zieht ihren schweren Rollkoffer in Richtung einer ehemaligen Polizeikaserne in Bochum. Es ist früher Morgen an einem grauen Herbsttag 2018. Am Tor der Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen stehen zwei Sicherheitsmitarbeiter und deuten auf das Gebäude, in das sie gehen muss, um einen Antrag auf Asyl zu stellen.
In einem Raum mit kahlen weißen Wänden spricht Hernández den Mitarbeiter hinter dem schmucklosen Schalter auf Spanisch an – sie ist erst vor einem Monat in Deutschland angekommen und spricht kein Deutsch. »Mein Name ist Macarena Hernández. Ich komme aus Nicaragua und muss einen Asylantrag stellen.« Der Mitarbeiter wühlt in Antragsformularen. »Geht auch ein Formular auf Italienisch oder Portugiesisch? Ist ja ähnlich.« Hernández verneint. Der Sachbearbeiter ruft eine Dolmetscherin an. Es dauert, bis sie eintrifft.
Macarena Hernández ist nicht ihr richtiger Name. Auch ihr Ankunftsort in Deutschland war tatsächlich ein anderer. Zum Schutz vor Repressalien wurden die Daten für diesen Text geändert.
Hernández muss ihren Pass abgeben – warum, weiß sie nicht
In der Erstaufnahmestelle in Bochum wartet Hernández in dem angrenzenden kargen Raum voller Tische, an denen Menschen in verschiedensten Sprachen Formulare ausfüllen. Hier füllt schließlich auch Hernández mit Hilfe der Dolmetscherin ihren Antrag aus, die ihr außerdem das Asylverfahren erklärt. Dann wird Hernández in ein anderes Gebäude gebracht. Ein Mitarbeiter der Außenstelle des BAMF nimmt ihr den Pass weg. Hernández ist nervös – die Dolmetscherin ist nicht dabei, um zu erklären, was passiert. Inzwischen ist es Mittag und Hernández wird in einen Wartesaal geführt. Erst Stunden später holt ein Mitarbeiter sie ab, setzt sie ohne Erläuterung in ein Auto und lässt sie am Hauptbahnhof aussteigen. Es ist später Nachmittag, sie ist allein und hält ein Quer-durchs-Land-Ticket mit einem Reiseplan nach Hamburg in der Hand, eine Stadt, die sie nicht kennt. Viermal soll sie umsteigen. Dann müsste sie nachts noch vom Hauptbahnhof zur einer am Stadtrand liegenden Erstaufnahmestelle fahren – unmöglich zu schaffen. Hernández kennt zum Glück eine Person in Bochum, die sie sofort unterstützt: Sie kauft ihr ein neues Ticket, erklärt ihr die Zugverbindung nach Hamburg und organisiert, dass sie nach Mitternacht abgeholt wird und einen Schafplatz hat. Am nächsten Morgen begleitet ein Unterstützer sie zur Erstaufnahmestelle in Berne.
Darwin Manuel Urbina ist einer der ersten Toten
Hernández flüchtete Mitte September von Managua, der Hauptstadt Nicaraguas, nach Deutschland – weil sie aktiv die Proteste gegen die Regierung von Daniel Ortega unterstützt hatte. Angefangen hatte es am 18. April: Studierende und ältere Menschen demonstrierten gegen eine geplante Sozialreform, mit der die Regierung Beiträge erhöhen und Zuwendungen senken wollte. Die Regierung ging mit brachialer Gewalt gegen die friedlichen Demonstrationen vor. Aus Empörung über die Repressionen entwickelte sich ein landesweiter Aufstand für Demokratie und Gerechtigkeit. Die Demonstrierenden, allen voran Studierende, besetzten Universitäten und errichteten Straßenbarrikaden, die das ganze Land lahmlegten. Auch die Kirche und der Unternehmerverband COSEP schlossen sich dem Protest an.
Auch Hernández ist empört. Am 19. April demonstriert sie mit Hunderten anderen vor der Polytechnischen Universität UPOLI und ist dabei, als die Polizei am Abend die Proteste mit Gewalt auflöst. In dem Chaos sieht Hernández, wie ein Mann zu Boden fällt. Eine Person schreit: »Er ist tot!« Es ist einer der ersten Toten der Proteste von 2018: Darwin Manuel Urbina. Hernández rennt nach Hause. »Wir waren junge Menschen, die mit Plakaten unsere Forderung öffentlich machten. Wie in einer Demokratie. Mit einer solchen Gewalt habe ich nicht gerechnet, als ich mich den Protesten anschloss«, sagt Hernández heute.
Zehn Zivilisten starben allein am 19. und 20. April. Die Bilanz im Dezember 2018: Mindestens 349 politisch Gefangene und 325 Tote. »Es sind nur einige Wenige, die den Frieden Nicaraguas stören und sich Tote ausdenken« – diese Worte der Vizepräsidentin Rosario Murillo hört Hernández, als sie am Abend des 19. April wieder zu Hause ist und den Fernseher einschaltet. Für sie eine glatte Lüge.
Hernández loggt sich mit einem Pseudonym bei Facebook ein und postet kritische Artikel und Video-Kommentare, die sie während der Proteste aufgenommen hat: »Wir fordern die Freiheit, keine Angst zu haben, wenn wir unsere Meinung äußern. Freiheit für unabhängige Wahlen«, sagt sie auf einem der Videos, auf dem zu sehen ist, wie sie Patronenhülsen aufhebt. Auf einem anderen Video filmt sie Menschen beim Barrikadenbau: »Sie schützen sich vor den Paramilitärs.«
Unabhängige Nachrichten gibt es über die staatlich kontrollierten Medien nicht. Wer sich informieren will, wer sich mit anderen Oppositionellen vernetzen und organisieren will, greift auf die sozialen Medien zurück. Schon 2014 hatte die Feministin die Politik der Ortega-Regierung auf Facebook als neoliberal, kapitalistisch und patriarchal kritisiert. Damals postete sie noch unter ihrem Klarnamen.
Irgendwann merkte sie, dass sie beschattet wurde: Ein Mann stand tagelang immer wieder vor ihrer Haustür, im Wohnheim hatte jemand nach ihr gefragt. Sie löschte ihren Account und wurde in Ruhe gelassen. Ab April 2018 verbreitet Hernández wieder kritische Nachrichten. Schnell hat sie auf Facebook 24 000 Follower.
Über WhatsApp organisiert sie sich außerdem mit anderen regierungskritischen Menschen. In der zweiten Woche der Proteste merkt Hernández, dass sie wieder beschattet wird – und taucht unter. Aus sicheren Häusern heraus versorgt sie Demonstrant*innen mit Essen und Medizin. Sie hilft, auch andere Aktivist*innen in sicheren Häusern zu verstecken. Zur Finanzierung sammelt sie Spenden unter Menschen, die Ortega genauso kritisch gegenüberstehen wie sie.
Doch ab August verfolgt die Regierung Oppositionelle immer stärker, die Zahl der Menschen, die im Gefängnis landen, wächst. Hernández hat Angst, gefoltert zu werden und ihre politische Gruppe zu verraten. Eine Gruppe, für die Hernández vor den Protesten Bildungsarbeit leistete, hat Kontakte zu einer Organisation in Deutschland. Diese hilft ihr die Flucht zu organisieren.
Nachdem Hernández geflohen ist, wird ihre Schwester verhaftet
Hernández flüchtet rechtzeitig: Am 25. September stürmen um 4 Uhr nachts Polizist*innen und Paramilitärs das Haus ihrer Schwester und nehmen sie fest. Als die Polizei bei den Verhören merkt, dass sie nicht die Gesuchte verhaftet haben, versuchen sie trotzdem, ein Geständnis zu bekommen. Sie drohen der Schwester, ihren kleinen Kindern könnte etwas passieren. Hernández lässt sich über ihre Mutter, die mit der Familie im Kontakt steht, alles detailliert per Sprachnachrichten erzählen. Eine Art der Kommunikation, die sie gewohnt ist, da ihre Mutter seit 15 Jahren als Haushälterin in den USA arbeitet.
Die Schwester hat Glück und wird entlassen. Sie flieht mit ihren Kindern über den langen, beschwerlichen und gefährlichen Landweg zu der Mutter in die USA. Hernández’ politische Gruppe hat kein Glück. Wenige Stunden nach der Verhaftung der Schwester wird die Aktivistin Ana Gabriela Nicaragua aus ihrem Haus geholt. Ihr werden organisiertes Verbrechen und illegaler Waffenbesitz vorgeworfen. Möglich ist dies, weil das Parlament im Juli ein »Anti-Terrorgesetz« verabschiedet hat, mit dem Protestierende verurteilt werden können.
»Das Asylsystem ist darauf ausgelegt, dass du aufgibst.«
Hernández kocht Tee in der kleinen, aber warmen und sauberen Küche der Container-Siedlung in Hamburg, in der die meisten der fast 30 Geflüchteten aus Nicaragua untergebracht sind. Es ist Ende Dezember. Wegen der Residenzpflicht durfte sie an Weihnachten nicht zu der Familie fahren, die sie in Köln aufgenommen hatte. Das Asylverfahren nagt an ihr. Die ersten Wochen in der Erstaufnahmestelle seien furchtbar gewesen. »Letzte Woche habe ich jemanden am Flughafen abgeholt und ihm erklärt, was ihn in Berne erwartet.« Die Asylsuchenden aus Nicaragua unterstützen sich. Sie alle haben unterschiedliche Geschichten. »Das Asylsystem ist darauf ausgelegt, dass du aufgibst«, sagt Hernández. Aufzugeben ist aber keine Option. »Ich möchte hier Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit machen. Diese Möglichkeit bleibt mir, um für einen politischen Wandel zu kämpfen.«
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