Zartzeichner und Kindmensch

Tomi Ungerer: Frivoler Diabolus gestorben

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 3 Min.

Das große Sterben in der Genieklasse nimmt kein Ende. Nun hat der Töteblitz auf der Zeichnerflanke eingeschlagen. Den noch wankend Anwesenden hat er nun zum dankend Gewesenen befördert. Tomi Ungerer ist nicht mehr. 9. Februar letzter Atemzug des Zeichners, der Anzeichen und Unzeichen gleichermaßen Bezeichnendes zu verzeichnen hatte. Ob er idyllisch oder zynisch, metaphorisch oder diabolisch daher kam, sein Zeichnerstich und sein Meisterstrich trafen ins Schwarze. Düsternis zu erhellen war er da. Farbe bekennen wurde seine Sache. Tummeln auf der Spielwiese blühender Fantasie, um Bildideen zu wortlosen Cartoons sprießen zu lassen.

Am 28. November 1931 in Strasbourg als Elsässer geboren, wird er früh ins Wüten einer angeblichen Erbfeindschaft geworfen. Als Ernst des Lebens bezeichnet, bringt es ihn nur zum Lachen. Es wird zeitlebens ein abgründiges bleiben. Sein unbändiges Temperament kommt im Sog des Zeitzuges nie mehr zur Ruhe. Künstlerisch weder aus- noch eingebildet schwirrt er in die weite Welt des Westens. New York schluckt ihn und spuckt ihn wieder aus. Traf seine verquere Lineatur doch die Scheinmoral der Obszönitäten der Herrenklasse mit Damenanhang genial mitten ins Genital. Moralkritik oder Politsatire, er setzte Zeichen. Nichts galten ihm Grenzen des Landes oder des Anstandes.

Als neuer Familienmensch zog er in unberührte kanadische, danach in irische Urnatur, schlug Holz ein und zog Tiere auf. Von den Furien der Lust und des Zorns gejagt, kam er erst auf den endlosen Weiten der Buchseiten zu Ruhe und Erfüllung. Von »Der Mondmann« über »Die drei Räuber« bis zu »Der Nebelmann« kommen am Ende 140 Bücher heraus. Übersetzt in 28 Sprachen. Schwerenöter, Leichtgeschürzte - nichts Menschliches bleibt ihm fremd. Skandalreporter oder Märchenerzähler: Im Puff war er zuhause wie im Kinderzimmer. Die Chef-Domina pries ihn als Top-Versteher. Und die EU würdigte seine Kinderbücher mit der formellen Ernennung zum »Botschafter für Kindheit und Erziehung«.

Ein Gegenstand zum Lachen muss nicht glänzen in der Sonne blanken Humors. Ungerers Gebilde funkeln mehr vor Witz. Ihre scharfen Kanten reflektieren das Licht auf grelle Weise. Er muss nicht in den Weltraum entfliehen, um Schwerelosigkeit zu finden. Wo er die vermeintliche Leere der weißen Papierfläche zu schätzen weiß, kommt Bruder Leichtfuß mit seinem kargen Strich zur wahren Geltung.

Der ist nicht so arm wie die Endlos-Stricheleien der Geistlosen. Tomis Geistreichtum findet dann eben Worte jenseits des Zeichnens. Etwa: »Die Hölle ist das Paradies des Teufels.« So spricht der Aphoristiker aus ihm. Oder »Heute hier, morgen fort« resümiert seine schräge aber folgerichtige Lebensbahn. Seine Erkenntnis »Ich glaube, die Realität illustriert sich durch ihre Absurdität selbst« gibt zu denken. Selbst die alten Volkslieder sind für ihn dazu angetan, das Sangbare uralt überlieferter Texte bildmäßig zu erfassen.

Man glaubt es kaum: Es gab tatsächlich einmal eine Werbung, die sich solcher Talente wie Tomi Ungerer bediente. Als die schamlos auf Hochglanz gestylte Profitgier noch nicht Orgien der Verdummung feierte, warb man noch mit Witz und Geist. Die beworbenen Produkte konnte man guten Gewissens genießen. Grafische Metaphern seiner Art galten da noch als globales Vokabular zur Verständigung. Insofern ist ein nunmehr in Strasbourg nur museal aufbereiteter Tomi Ungerer zum Blindgänger herabgewürdigt. Sein Beispiel sollte heute genauso zünden wie zu seiner besten Zeit. Blitzgescheit. Man sollte die grafischen Zünder wieder scharf machen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!