Das Band läuft rückwärts

Polit-Vergangenes ist wie Plastikmüll: Es verwest nicht.

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 5 Min.

Wir wolln der Zukunft nicht ins Fenster gaffen. / Sie liegt mit der Vergangenheit im Bett. / Die ersten Menschen waren nicht die letzten Affen, / Und wo ein Kopf ist, ist auch meist ein Brett.

Als Erich Kästner das 1928 als Strophe eines Gedichtes in »Herz auf Taille« veröffentlichte, da konnte er unsere ach so in die Zukunft weisende Gegenwart noch nicht kennen. Zuhauf räkeln sich heute großspurig die Brettkopftypen. Die letzten Menschen machen sich zu den ersten Affen. In affenartiger Geschwindigkeit kehrt Vergangen Geglaubtes zurück. Das Band läuft bereits rückwärts. Kästner guckt verwundert aus dem Poetenhimmel herab. Und wundert sich als gebürtiger Dresdner, gelernter Berliner und abgeklärter Münchner über gar nichts mehr. Speziell ostwärts war er durchaus orientiert. Und nun?

Er sieht und staunt. Entwicklung vom Niederen zum Höheren wird wieder großgeschrieben. Statt Fortschritt ist nun ständiges Wachstum oberstes Ziel. Objektive Schwierigkeiten? Nein, das sind heute nur Herausforderungen, ja, unbeeinflussbare Bedingungen. Das Gebot, absolut keine Fehlerdiskussion zuzulassen, wanderte von Funktionärsmentalität zu Managerqualität. Von Ehrgeiz triefende Ziele haben Priorität. Was einem teuer ist, wird eben teuer bezahlt. Katastrophenprojekte wie BER oder Stuttgart 21 sind unantastbar. Heilige Kühe kommen nie vom Eis. Gigantische Charaktere brauchen gigantische Projekte. Rinderoffenställe waren harmlos, verglichen mit den Schweinemastfabriken von heute.

Der Dichter sieht und denkt. Dicht ist er der Wiederkehr von Prinzipien auf den Fersen. Haha, ja, Versen schenkt er seine Phantasie. Reime schmieden dazu, das wäre ja was: Blanken Wahnsinn schöner reden, das erfreut doch einen jeden. Zum Beispiel. Das sind dann schon Fälle, späteren Zeitzeugen Ost wie Peter Hacks und Heiner Müller geläufig. Schönfärbern im Grau-Staat auf die Sprünge helfen war ihr Programm. Farbwunderheiler der Bunten-Republik - wer will, wer kann, wer darf sie noch retten? Platte Widerspiegelung des Tatsächlichen allein ist gefragt. Das Foto bestimmt das Selbst. Das Selfie als Vollendung des sozialistischen Menschenbildes. Kunst hat der Gunst zu dienen. Mehrheit bestimmt - ob nun Aktienmehrheit, Abstimmungsergebnis oder Einschaltquote. Die Weisheit des Kollektivs hieß das mal.

Was ist da passiert? Die Dichter hat es fast sprachlos gemacht: Vergangenheit, die man ab oder auf zu arbeiten versuchte, verschwand eben keineswegs. Offenbar hat sie den rabiaten Umgang mit ihr verübelt. Nichts vom Wesen des abgesetzten Staatsprogramms durfte mehr gelten. Nun rächt es sich. Aus Geheimdienstakten, prall überquellend von Denunziantentum, steigt im Dunst von Verdächtigung und Verdammung neues Denunzieren hoch. Auf der Ebene offizieller Spitzelei ist der Gegenpart anarchisch wucherndes Mobbing. Argwöhnisch belauert man sich gegenseitig, wenn man mehr gelten will als andere. Unter diesem Zwang permanenter Selbstbestätigung kann kein Prinzip von Kritik und Selbstkritik Platz greifen. Es hat längst der Farce von Zensur und Selbstzensur Platz gemacht.

Zensur muss ununterbrochen zensieren. Auch im Sinn von Zensuren verteilen. Aburteilen ganz ohne Gerichtsprozess, die Lust aller Hobbyjuristen. Lebensleistungen abzuwerten hat Konjunktur. Was die herrschende Staatspartei sich in dem Sinn anmaßte, muss eine fatale Vorbildwirkung entwickelt haben. Musterlebensläufe als Leitlinien, das liebt eben Bürokratie über alles. Oft genug ist die beliebige Austauschbarkeit der Vorsilben »Büro« oder »Demo« frappierend. Ganze demokratisch zu legitimierende Genehmigungsverfahren sind entstellt davon. Die Doppelexistenz von lobbyistisch angelegten Beratergremien neben der Legislative kommt als erschwerender Faktor dazu. Das erinnert schon wieder an die kostentreibende Doppelbesetzung leitender Posten im verblichenen Staatswesen. Man erinnere sich - neben jeder staatlichen Leitperson jeweils der Schatten eines Parteisekretärs.

Solcherart Bürokratie herrschte damals. Eine andere hat heute alle Abläufe zu bestimmen. Sind all die SEKRETARIATE voller männlicher und weiblicher SEKRETÄRE bis hoch zum PolitBÜRO vergessen? Und jetzt? Bürovorstände, Aufsichtsräte, Kommissionen bestimmen, wer wo womit wofür beschäftigt wird. Beschlussvorlagen bestimmen Ausrichtung, Tonart und Wortwahl der Deutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Themen werden, einmal als Schwerpunkt vorgegeben, radikal durchgezogen. Begrüßenswerte Stichworte wie Gleichstellung oder Frauenquote oder Behindertenförderung verhüllen das erbarmungslose Diktat von Rationali-, Digitali- und Automati-Sierung. Da dürfen dann andere »Sierungen« wie die Moralisierung gern assistieren. Die »Mierungen« haben sich von Prä- zu Opti- weiter entwickelt. Es gibt halt immer etwas neues Altes.

Wirklich schade, dass Dichter vom Kaliber der Erich Kästner oder Kurt Tucholsky plus Nachfolger ihren Senf nicht mehr zu dem angerichteten Spezialgericht geben. Die Zutaten bleiben, und die Zubereitung folgt ebenfalls bewährten Mustern. Das überwunden Geglaubte, in den Orkus verbannt, feiert immer wieder Auferstehung. Absurditäten maskieren sich als Normalitäten. Es ist wie immer - wir schmeißen etwas weg, und es kommt durch die Hintertür wieder herein. Manchmal stellt sich das allzu bereitwillig als Müll der Geschichte Angesehene als wertvoller heraus als angenommen. Oder das Verdammenswerte entfaltet eine fatale Attraktivität. Oder es kommt maskiert als das Neue freudestrahlend wieder.

Der allergrößte Hammer ist der Begriff der Einheit. Er hat im Deutschen immer den Effekt der Vereinheitlichung bis hin zur Vereinnahmung. Das perfekt nach preußischem Zuschnitt geschneiderten Deutsche Reich funktionierte so. Und die komplettierte Bundesrepublik stellt frech das Führungspersonal aus ihrem Altbestand. Bedingung: Akademisch amerikanisch geadelt. Das Muster lieferte die konträr andere Seite. Kader entscheiden alles, meinte sie. Bedingung: Akademisch sowjetisch geadelt. Der Händedruck des Signets der SED: Wilhelm Pieck gab Otto Grotewohl paritätisch und patriarchisch die Hand. Schon ein paar Jahre später waren die SPD-Genossen eine verschwindende Minderheit. Der inzwischen alte jüngere Friedrich Ebert durfte Magistrat von Berlin spielen und Erich Mückenberger Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Das war es. Lupenreine KPD-Dominanz ließ eher die bürgerlichen Blockfreunde ans Mitregieren als Sozialdemokraten.

Schlagen wir bei Erich Kästner nach. Da lesen wir 1932 in »Gesang zwischen den Stühlen«: Ihr wollt die Uhrenzeiger rückwärts drehen / Und glaubt, das ändere der Zeiten Lauf. / Dreht an der Uhr! Die Zeit hält niemand auf! /Nur eure Uhr wird nicht mehr richtig gehen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.