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Aus sich heraustreten

Philippe Lançon beschreibt das Überleben des Attentats auf »Charlie Hebdo«

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.

Eigentlich wollte der Journalist Philippe Lançon für die Pariser Tageszeitung »Libération« eine Theaterrezension schreiben, über »Was ihr wollt« von Shakespeare. Eine Bekannte hatte ihn am Abend des 6. Januar 2015 zur Inszenierung eines befreundeten Regisseurs mitgenommen. Doch am nächsten Morgen entschied er sich, nicht sofort die Kritik zu schreiben, sondern erst einmal an der Redaktionssitzung von »Charlie Hebdo« teilzunehmen.

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Philippe Lançon: Der Fetzen.
A. d. Franz. v. Nicola Denis. Tropen, 551 S., geb., 25 €.

Lançon arbeitete unter anderem auch für dieses Satireblatt, dessen Redaktionsräume 2011 verwüstet worden waren, nachdem man nicht nur Christus-, sondern Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte.

Als Lançon in der Redaktion eintraf, wurde dort gerade der zwei Wochen zuvor erschienene Roman »Unterwerfung« von Michel Houellebecq diskutiert. Ein Roman, der von der Entwicklung Frankreichs zu einer gemäßigten islamischen Republik erzählt. Einige der Zeichner und Redakteure kritisierten das Buch, einige - unter ihnen auch Lançon - verteidigten es.

Als er dann gegen halb zwölf aufsteht, um zu »Libération« zu gehen und dort seine Kritik zu »Was ihr wollt« zu verfassen, stürmen zwei Islamisten, die Brüder Saïd und Chérif Kouachi, die Redaktionsräume und erschießen elf Anwesende.

Lançon überlebt das Massaker schwer verletzt. Drei Kugeln trafen ihn, von denen eine seinen Unterkiefer zerstörte. Im Krankenhaus liest er das Stück »Was ihr wollt« von Shakespeare wieder und wieder. »Shakespeare ist immer ein hervorragender Wegweiser durch einen zweideutigen, blutigen Nebel. Er verleiht dem, was keinen Sinn hat, Gestalt und damit dem Erlittenen und Erlebten Sinn«, schreibt er in »Der Fetzen«, seinem Erinnerungsbuch an diese Zeit, als er neun Monate im Krankenhaus und in der Reha verbringen musste. Siebzehn Mal wurde er operiert, bis er einigermaßen wieder so aussah wie vor dem Attentat und auch wieder allein essen und trinken konnte. Anfänglich durfte er nicht sprechen, hatte permanente Schmerzen und fand keinen Schlaf - er nahm nur noch die unmittelbare Krankenhausgegenwart wahr.

Das Attentat hat sein altes Leben radikal ausgelöscht. Doch ihm blieb nichts anderes übrig, als sich mit der Hölle, in der er gelandet war, auseinanderzusetzen, um sich langsam daraus herauszuarbeiten und ein neues Leben aufzubauen. Bei Franz Kafka, in dessen Briefen an Milena Jesenská, liest er: »Zunächst aber jedenfalls sich in einen Garten legen und aus der Krankheit, besonders wenn es keine eigentliche ist, so viel Süßigkeit ziehen, als nur möglich.« Lançon ist froh, dass Journalismus sein Beruf ist: »Schreiben ist das beste Mittel, um aus sich herauszutreten, selbst wenn nur von einem selbst die Rede ist. Ich war der Mann, der diesen Patienten beobachtete und erschloss, der seine Geschichte mit Wohlwollen und Vergnügen erzählte und beides zu vermitteln hoffte.«

Erinnerung ist immer auch Fiktion - in Lançons autobiografischer Erzählung mischt sich das mit der Wirklichkeit zugunsten einer literarischen Wahrhaftigkeit dieses Textes. Es ist ein Aus-sich-Heraustreten, das ihm und dem Leser das Gefühl von Freiheit gibt. Zunächst geschieht das durch die Kolumnen für »Charlie« und »Libération«, die er bereits kurz nach dem Attentat im Krankenhaus zu schreiben beginnt, später dann in der Form eines Buches.

Wir kennen die Zahl der Toten und Verletzten von Attentaten. Aber was wissen wir über das Schicksal der zum Teil schwer verletzten Opfer? Philippe Lançon erzählt vom Überleben, aber nicht in der Form der gewohnten, hollywoodverdächtigen Wiederauferstehungslegende, sondern nüchterner, mit allen Widersprüchen. Er fühlt sich wie der Sonnenkönig in Roberto Rossellinis Film »Die Machtergreifung Ludwigs XIV.«, weil auch er als staatstragendes Opfer und Schwerverletzter unter ständiger Überwachung steht. Und dann, am Ende, hat er Angst, in die Welt außerhalb des Krankenhauses zurückzukehren. »Allein die Vorstellung, das Krankenhausareal zu verlassen, erschreckte mich. Nicht, weil ich hier allmächtig gewesen wäre, sondern weil meine Erfahrung hier lebenswert war.« »Der Fetzen« ist ein Buch über das man noch lange nachdenkt.

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