Die neue Lust

Didier Fassin über das Strafrecht

  • Volkmar Schöneburg
  • Lesedauer: 3 Min.

»Die kleinen Diebe hängt man, die großen lässt man laufen: Auf diesem Gemeinplatz steht seit alters jedes Gerichtsgebäude.« Diese Sentenz Ernst Blochs könnte durchaus auch als ein Fazit aus dem Buch von Didier Fassin entnommen sein. Er konstatiert für die letzten Jahrzehnte eine mehr oder weniger ausgeprägte Verschärfung des Strafrechts in den westlichen Demokratien. Doch steht dieser Trend in keiner direkten Abhängigkeit zur Entwicklung der Kriminalität, die in bestimmten Bereichen sogar rückläufig ist. Das veranlasst ihn, in seiner Arbeit den Fragen nachzuspüren, was Strafen ist und warum wer bestraft wird. Dabei pflückt Fassin die Früchte seiner Erkenntnisse nicht etwa auf dem Feld der Strafrechtswissenschaft, sondern auf denen der Anthropologie, der Ethnologie, Soziologie und der Geschichtswissenschaft. Das gereicht dem lesenswerten Buch durchaus zum Vorteil.

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Didier Fassin: Der Wille zum Strafen.
Suhrkamp, 206 S., geb., 25 €.

Sehen Jurisprudenz und Philosophie gemeinhin die Strafe als staatliche Zufügung eines Übels aufgrund einer Rechtsverletzung, bemessen nach Tatschwere und Schuld, kommt Fassin, der in Princeton lehrt und in der Tradition seiner Lehrmeister Foucault und Bourdieu steht, zu einem ganz anderen Ergebnis. Nicht selten sei beispielsweise das Agieren der Polizei bei Personenkontrollen, Wohnungsdurchsuchungen oder Festnahmen vor dem Hintergrund der subjektiven Einstellungen der Beamten und eines omnipräsenten Sicherheitsdiskurses de facto eine Strafmaßnahme, ohne dass eine Rechtsverletzung vorliegt. Ähnlich sieht er die Ausübung der Disziplinargewalt in den Gefängnissen. In diesen Kontext fügt sich auch die Einführung von Sanktionen in diversen deutschen Polizeigesetzen wie die Fußfessel für »Gefährder«, die Ausdehnung der Präventivhaft oder von Aufenthaltsverboten. Nüchtern betrachtet sind das Strafen ohne Taten. Auch das Vorgehen der Polizei gegen Umweltaktivisten im Hambacher Forst oder in der Lausitz bestätigt Fassins These. Für ihn reduziert sich insofern das Strafen heute auf die Zufügung von Leid. Anders ausgedrückt: Das Strafen ist im Kern eine Machtdemonstration des Staates.

Fassin bringt als Alternative die auf Kompensation und Streitschlichtung ausgerichtete Strafpraxis anderer Gesellschaften ins Spiel. Anhand aufrüttelnder Fallbeispiele zeigt er, dass es in der Regel ganz andere Gründe sind, die die Polizisten, Richter oder das Gefängnispersonal auf einer Mikroebene bei der Ausübung ihrer jeweiligen Strafbefugnis leiten. Diese reichen von ethnischem Profiling über richterliche Routine bis hin zu einer Sanktionspraxis, bei der Gefangenenrechte nachrangig sind gegenüber der Aufrechterhaltung der Ordnung. Gefängnisstrafe impliziert mehr als den Entzug der Freiheit. Sie bedeutet oft den »sozialen Tod« des Betroffenen über die Freiheitsstrafe hinaus.

Anschaulich belegt Fassin, dass die Strafrechtsanwendung durch sozioökonomische und ethnisch-rassische Diskriminierungen geprägt ist. Es sind die Habenichtse aus der Unterschicht und Migrantenfamilien, die primär im Fokus der Strafjustiz stehen. Steuerhinterziehung wird eher toleriert als Ladendiebstahl. Dabei blendet die Justiz bei der Verurteilung meist die soziale Dimension der Taten aus oder legt sie sogar zuungunsten des bereits sozial benachteiligten Delinquenten aus. Somit spielt die Strafjustiz eine wichtige Rolle bei der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten. Fassin diskutiert hier ein Phänomen, für das Karl Liebknecht vor mehr als 100 Jahren den Begriff der Klassenjustiz kreierte.

Die neue Lust am Strafen hat ihre Hauptursache in den gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Neoliberalismus und Globalisierung haben die Spaltung zwischen Arm und Reich verschärft und gleichzeitig die Regelungskompetenz des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik stark limitiert. Deshalb ist dieser bestrebt, Handlungsfähigkeit in der lokalen Sicherheitspolitik zu beweisen und auf die mit sozialem Abstieg und Kontrollverlusten verknüpften diffusen Ängste der Menschen zu reagieren. Nach Fassin erhoffen sich die politischen Eliten Wahlvorteile von der Dramatisierung der Sicherheitslage und durch die Demonstration von Härte.

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