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Gemeinsam groß werden

Sympathische Antikommunisten, Klassenkampf auf dem Wohnungsmarkt, Lesen als Mutprobe: die Leipziger Buchmesse

Sag mir, wo die Rechten sind. Bei der diesjährigen Buchmesse in Leipzig spielten sie keine Rolle. Gleich zur Eröffnung gab es auf dem Augustusplatz eine kleinere Demonstration, die forderte, dass es »Keinen Regalmeter für Faschismus« geben dürfe. Tatsächlich gab es nicht allzu viel davon. Vertreten waren nur die dumpfe »Deutsche Stimme«, die Zeitung der NPD, und das bizarre, rechtsradikal-ufologische Magazin »Compact« von Jürgen Elsässer, fast unberührt vom normalen Publikum, abgeschieden im Wasteland der Messe, bei den Antiquariaten am Rand von Halle 3. Vor dem »Compact«-Stand war nichts los, vor dem NPD-Stand verloren sich ein paar klüngelnde Jungnazis aus dem Fitness-Studio, die die wenigen Vorübergehenden feindselig anschauten, als wollten sie sagen: »Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.« Und so ist es ja auch. »Die wichtigste weltweite Bewegung gegen Rechts ist der Feminismus«, stellte die Politologin Anna Stiede am Samstag auf der vom linken Onlinemagazin »Supernova« organisierten, gut besuchten Diskussionsveranstaltung »Can’t buy feminism?« in der Leipziger Innenstadt fest. Denn davor haben die Rechten wirklich Angst: vor der Idee, dass die Menschen gleichberechtigt sind.

»Moralisch sein bedeutet im Grunde, fähig zu sein, den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen zu erkennen und zu wissen, wo die Grenze verläuft. Im weiteren Sinne des Wortes bedeutet es, die Verantwortung anzunehmen und dem Bösen Widerstand zu leisten«, sagt die tschechische Dramatikerin Radka Denemarková in einem Interview, zu finden in der Messezeitung, die das Gastland Tschechien für seinen Auftritt in Leipzig produziert hatte. Darin sollte es um »Literatur im Ausnahmezustand« (Untertitel) gehen, also irgendwie um gesellschaftliche Krise, historisches Bewusstsein und die Abwehr von autoritärer, rechter Politik.

Allerdings kündete der Messeauftritt des Gastlandes, der als »Nationalstand der tschechischen Republik« bezeichnet wurde, vom Gegenteil. Ein putziger kleiner Flecken in Halle 4, in dessen Zentrum eine Mini-Arena aus Holz stand, in die sich vielleicht 30 Menschen auf einmal quetschen konnten, um tschechischen Schriftsteller*innen und ihren Übersetzer*innen zu lauschen, die vor ihnen an einem Schreibtisch Platz nahmen, meistens zu dritt. Das sah aus, als hätten sie ein Spielzeugbüro in einem Kleinkunstzirkus, aus dem oben eine bunte Fahne herausragt, auf der »Ahoi« geschrieben steht. Eine Wand mit den hübschen Covern der Bücher von Milan Kundera, der am 1. April 90 Jahre alt wird, durfte nicht fehlen. Ein Ambiente, das einen unweigerlich an die phänomenalen tschechischen Kinderfilme der siebziger und achtziger Jahre - »Pan Tau« oder »Luzie, der Schrecken der Straße« - denken ließ. Dazu wurden mitunter Zitronenkuchen und Starobrno gereicht, ein würzig-bekömmliches Bier aus Brno. In dieser heimeligen Atmosphäre erzählten die tschechischen Autoren und Autorinnen unweigerlich vom Realsozialismus als merkwürdig verdunkelter, fast märchenhaft versunkener Zeit. Vielleicht sind die Tschechen die am meisten sympathischen Antikommunisten der Welt? Dachte man so, während beispielsweise die in Berlin lebende Schriftstellerin Dora Kapralova am Schreibtisch im Spielzeugbüro über die Frage nachsann, woher der Ausdruck stammen könnte, dass ein Roman »flüssig geschrieben« sei. Ihre Antwort: »Damit man von Geschichte zu Geschichte schwimmen kann.«

Oder von Auszeichnung zu Auszeichnung. Den Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik bekam die Außenseiter-Kandidatin Anke Stelling für ihren Roman »Schäfchen im Trockenen«, der vom Klassenkampf auf dem Wohnungsmarkt als neuer sozialer Frage im gentrifizierten Berlin handelt und im kleinen Verbrecher-Verlag erschienen ist. Damit schlug ihr Roman die tendenziell geschwätzigen, apolitischen Werke aus den großen Verlagshäusern, die auch nominiert waren: Feridun Zaimoglus »Die Geschichte der Frau« etwa, eine pseudofeministische Angeberei im Machoduktus, die angeblich historische Frauenfiguren feiern soll. Und das liest sich dann so: »Hier ist das Heim der Bosheit. Hier haust der Dämmerungsgeist. Ich sehe ihn: Er läuft sich in Schweiß. Ich bin das Hünenweib. Ich tilg die Furcht aus meinem Sinn. Die Schwärze bekommt einen Mund, der zischt: ›Bist du es, Brunhild?‹« Oder Kenah Cuisanits überaus langatmigen Roman »Babel«, in dem es um einen siechen, kolonialistischen Archäologen aus dem deutschen Kaiserreich geht, der seine babylonischen Ausgrabungsabenteuer rekapituliert. Doch leider sind es keine Abenteuer, sondern eher private Petitessen, wenn es etwa über einen seiner Mitarbeiter heißt: »Reuther wusste, wie man das beste Omelett zubereitete (mit Champignons und Kresse), er beherrschte die Kunst des Gurkeneinlegens (nicht einkochen, nur mit kochendem Wasser übergießen) und er beherrschte die Kunst, sich auf Dinge einzulassen, die direkt oder indirekt damit zu tun hatten.«

Erfrischend war auch die Verleihung des mit 26 000 Euro dotierten Kurt-Wolff-Preises an Andreas J. Meyer und dessen Kleinverlag Merlin. Der 91-jährige Meyer hatte den Verlag 1957 in der bleiernen Zeit unter Adenauer gegründet und war 1960 mit der Veröffentlichung von Jean Genets erstem Roman »Notre-Dame-des-Fleurs« wegen der »Verbreitung unzüchtiger Schriften« von der Staatsanwaltschaft vor Gericht gezerrt worden. Die bereits gedruckten Exemplare sollten eingezogen werden. Es wurde ein Musterprozess für die bundesdeutsche Literatur, denn Meyer gewann gegen das postfaschistische »Keine-Experimente«-Diktat des CDU-Staats und wurde freigesprochen. Der Roman könne aufgrund seines hohen künstlerischen Werts für einen intelligenten Leser nicht anstößig sein, trotz der darin angeblich enthaltenen Obszönitäten, urteilte das Landgericht Hamburg.

Andererseits: Wer auf der Messe durch die Halle 3 ging, konnte durchaus über die Garantien der Kunstfreiheit ins Philosophieren geraten, angesichts der langen Schlange, die sich vor dem Stand des Festa-Verlags gebildet hatte. Dort signierte der Erfolgsautor Wrath James White, ein ehemaliger Profi-Kickboxer aus den USA, seine Bücher. Die heißen »Der Totenerwecker« oder »Schänderblut« und handeln von Kannibalismus und ähnlichem. Für sein Programm wirbt der Verlag mit dem Slogan »Wenn Lesen zur Mutprobe« wird. Die Wartezeit für ein Autogramm von White betrug cirka 1,5 Stunden. Zeitlupengleich rückte die Schlange vor, vorbei an Ständen von Verlagen, die Bibeln, Brotbackbücher oder - wie der katholische Medienverband - das Heft »Pilger - Magazin für die Reise durchs Leben« feilboten.

»Gemeinsam groß werden« hieß es auf einem großen Plakat am Leipziger Ring in der Innenstadt, in dem der Aufpump-Fußball-Bundesligist RB Leipzig für mehr Verständnis beim immer noch etwas skeptischen Publikum warb, das die lokalen Traditionsclubs Chemie und Lok nicht vergessen kann oder will. Abgebildet ist Yussuf Poulsen, einer der besten RB-Spieler, wie er mit zwei Kindern an der Hand auf das Leipziger Stadion blickt, als wäre es ein eben gelandetes Raumschiff. Überhaupt ist die Leipziger Innenstadt dominiert von riesigen Restaurants der Systemgastronomie, als wolle man sich jedwede Art von überraschendem Geschmackserlebnis streng versagen.

Im Schatten dieser Nichtorte, etwas außerhalb der City, in Richtung Gohlis, wo die Straßenzüge wieder etwas dunkler und angenehmer werden, fand am Freitag in der dicht gefüllten Wohnzimmergalerie »Artae« eine Lesung von Jürgen Roth und Florian Günther statt, um sozusagen die einfache Herzensbildung abseits der kommerziellen Gigantomanie zu schulen. Roth gedachte des kürzlich verstorbenen großen Lyrikers und Zeichners F.W. Bernstein, indem er dessen Gedicht von der lächerlichen »Weltmacht Wachtel« vortrug, und er las eine sehr anrührende Geschichte aus seinem neuen Buch »Der Jackel Hans«, in dem er Geschichten aus dem proletarischen Trinker- und Trinkhallen-Milieu in Frankfurt am Main versammelt, die er sich ertrunken hat und erzählen hat lassen von einem Heldenwirt aus dem Frankfurter Gallusviertel namens Sammy. Für Roth ist der Trinkhalle, Wasserhäuschen oder Büdchen genannte Frankfurter Kiosk »ein Refugium für Stehbiertrinker, für Ansprachebedürftige, für Menschen am sogenannten gesellschaftlichen Rand und für viele mehr«. Zusammen mit den genialen, ebenso warmherzigen wie sozial-analytisch prägnanten Gedichten von Florian Günther, die eine Original-Ostberliner Weiterentwicklung des lyrischen Erbes von Charles Bukowski darstellen, war das eine herzliche Angelegenheit. Und lustig, denn »Kühe weinen wie du und ich«, wie es Günther formulierte.

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