Wahlopoly in Wiesbaden
In Hessens Landeshauptstadt wird Ende Mai ein neuer Oberbürgermeister gewählt
200 Menschen waren gekommen. Der Saal platzte aus allen Nähten, als der Wiesbadener DGB-Kreisvorsitzende Sascha Schmidt am Mittwochabend das große OB-Wahlopoly eröffnete - ein an das Würfelspiel Monopoly angelehntes unkonventionelles Diskussionsformat mit Bewerbern für die anstehende Oberbürgermeisterwahl, die Ende Mai in der hessischen Landeshauptstadt zeitgleich mit der EU-Wahl stattfindet. Die Kandidaten stellten sich den Fragen der gewerkschaftlichen Jury und wurden danach von Jury und Publikum mit ausgedruckten symbolischen Social-Media-Daumen bewertet. »Politik soll auch Spaß machen«, so Schmidt.
Als man im Winter den Wahltermin für die OB-Direktwahl festklopfte und die Parteien ihre Bewerber kürten, ging alle Welt noch davon aus, dass Amtsinhaber Sven Gerich (SPD) das Rennen machen würde. Er hatte 2013 spektakulär den CDU-OB Helmut Müller aus dem Rathaus-Chefsessel verdrängt und sich einen Ruf als »volksnaher« und »jung-dynamischer« OB aufgebaut. Doch dann wurden ihm Enthüllungen über Luxusreisen und Luxusdinner zum Verhängnis. Diese hatten staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts auf Vorteilsnahme ausgelöst. Er warf überstürzt das Handtuch und stürzte seine Partei in eine Krise.
Inzwischen hat die SPD den bislang wenig bekannten Journalisten Gert-Uwe Mende auf den Schild gehoben. Er ist Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion und ehrenamtlicher Ortsvorsteher im Stadtteil Dotzheim. Seit seiner Nominierung stürzt sich das ver.di-Mitglied mit voller Kraft in den Wahlkampf, studiert Details der Stadtpolitik und marschiert bei Schülerdemos für Klimaschutz mit. Dass er weiß, wie er vor einem DGB-Publikum punkten kann, zeigte die Veranstaltung. So distanzierte er sich verbal von der Schuldenbremse, die 2011 auch mit SPD-Unterstützung per Volksabstimmung in der Hessischen Verfassung verankert worden war - zum Leidwesen von DGB-Gewerkschaftern. Damit sei der Spielraum von Kommunen eingeengt worden und notwendige Investitionen ausgeblieben. »Ich habe damals gegen die eigene Partei gestimmt und die Schuldenbremse abgelehnt«, so Mende.
Die zerstrittene Wiesbadener CDU, die derzeit mit SPD und Grünen im Rathaus kooperiert, traute Gerich offenbar lange eine zweite Amtszeit zu. Dies schlug sich in der Nominierung des biederen Dachdeckermeisters Eberhard Seidensticker nieder, der als Stadtverordneter nie besonders auffiel. Vor dem DGB-Publikum bemühte sich der CDU-Mann um Volksnähe und distanzierte sich sogar von der Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre. »Mit 63 muss für Handwerker Schluss sein, mein Knie ist schon kaputt«, so Seidensticker, der im Rückblick auch die von CDU, SPD und FDP getragene Teilprivatisierung der kommunalen Dr. Horst Schmidt-Kliniken (HSK) 2012 kritisch betrachtete. »Das geschah nicht leichten Herzens und das würde ich kein zweites Mal tun, wenn es nicht unbedingt sein müsste«, so der CDU-Mann. Ingo von Seemen (LINKE) bemängelte die »Geheimniskrämerei« mit dem Konsortialvertrag zur HSK-Privatisierung und verlangte als einziger Kandidat eine Rekommunalisierung des durch die Privatisierung in Mitleidenschaft gezogenen Krankenhauses.
Ob Grünen-Bewerberin Christiane Hinninger nach dem anhaltenden Höhenflug der in Hessen mit der Union regierenden einstigen Öko-Partei in die Stichwahl kommt, wird sich am 26. Mai zeigen. Jedenfalls bemühte sich auch die im Realo-Flügel verankerte Kommunalpolitikerin um Gewerkschaftsnähe und versuchte von Seemen links zu überholen. Dieser hatte sich für einen gesetzlichen Mindestlohn von zunächst 12,50 und dann 13 Euro bis 2021 ausgesprochen. Dies sei angesichts der Mietpreise und Lebenshaltungskosten in der Stadt zu wenig, gab sie zu bedenken. Wenn Mende die Schuldenbremse ablehne, Seidensticker für Rente mit 63 eintrete und Hinninger mehr Mindestlohn wolle, dann verträten sie damit programmatische LINKE-Forderungen, so von Seemen. »Ich habe Beitrittserklärungen mitgebracht.«
Das Wiesbadener DGB-Wahlopoly war nicht die erste Podiumsdiskussion mit den OB-Kandidaten, bei der die Publikumsbeteiligung alle Erwartungen übertraf. So mussten bereits bei Veranstaltungen des Seniorenbeirats und des KiTa-Stadtelternbeirats kurzfristig mehr Stühle herbeigeschafft werden. Bei politischen Akteuren weckt dies Hoffnungen auf eine höhere Wahlbeteiligung als vor sechs Jahren. Damals war nur etwa ein Drittel aller Wahlberechtigten an die Urne geeilt.
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