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»Flieh, Bolek, flieh! Und viel Glück!«
Wie ein Berliner Junge einem polnischen Zwangsarbeiter zur Flucht verhalf
Von den verstärkten Bombenangriffen und Zerstörungen ab 1940 war auch mein Elternhaus in Berlin-Mahlsdorf betroffen. Es wurde von Brand- und Sprengbomben, Granat- und Bombeneinschlägen stark beschädigt. Um Schutz vor dem Krieg zu suchen, übersiedelte meine Mutter, Klara Adam, mit uns vier Kindern im Februar 1943 zu Tante Anna nach Schlesien, nach Groß-Blumberg (heute Brody, Polen). Aber auch dort war die Welt nicht heil, auch dort sammelten wir schlimmste Erfahrungen - mit dem Naziterror.
Direkte, unmittelbare persönliche und strukturelle Gewalt erlebte ich am eigenen Leib vor allem in der Schule, besonders durch den Lehrer Rohde und Schulleiter Kanig, beide stramme Nazis, letzter sogar Ortsgruppenleiter der NSDAP. Für Lehrer Rohe, der aktiv bei der SA-Kavallerie war, war es ein »Vergnügen«, mich mit seinem Reitstock zu schlagen. Ich war nicht bei den »Pimpfen« und auch nicht Mitglied der Hitlerjugend. Und ich konnte auch nicht - wie andere Schüler - mit landwirtschaftlichen Produkten als Geschenke für die Lehrer dienen.
Ausgegrenzt und gedemütigt schloss ich Freundschaft mit polnischen Zwangsarbeitern, russischen und serbischen Kriegsgefangenen, die im Dorf bei Großbauern gefangen gehalten wurden und dort schwer schuften mussten. Ich sah mit eigenen Augen, wie sie mit schweren Knüppeln und Gewehrkolben geschlagen wurden. Einmal mussten ca. 30 bis 50 Gefangene auf einem Bauernhof antreten. Aufseher schrien auf sie ein, Wachhunde kläfften die Wehrlosen an. Einmal hörte ich hinter dem geschlossenen Tor eines Bauerngehöftes laute Schreie - dann fielen Schüsse.
Enge Freundschaft hatte ich mit einem 15-jährigen polnischen Zwangsarbeiterjungen geschlossen. Er war wie ich Kuhhirte und hieß Bolek. Mich nannte er immer Adam, ich weiß nicht warum, vielleicht weil es ein häufiger, populärer polnischer Vorname ist. Als ich eines Abends, im Frühjahr 1945, die Kühe von der Weide ins Dorf zurücktrieb und am Spritzenhaus vorbeikam, das gleichzeitig als Dorfgefängnis diente, hörte ich jemanden meinen Namen rufen: »Hilf mir!« Ich drehte mich um und sah am vergitterten Fenster das Gesicht von Bolek. »Adam, diese Nazischweine haben mich eingesperrt. Kannst du mir helfen?« Ich antwortete ihm: »Ja, natürlich, ich überlege mir etwas. Ich komme heute Abend, wenn es dunkel ist, zurück. «
Ich trieb die Kühe zu den jeweiligen Bauernhöfen. Aus der Werkstatt eines Bauers entwendete ich dann eine Eisensäge, eine Zange und einen Hammer. Spät abends schlich ich mich heimlich zum Spritzenhaus und reichte das Werkzeug Bolek durch das Gitterfenster. Ich bat ihn eindringlich: »Flieh, Bolek, flieh! Ich wünsche Dir viel Glück.«
Als ich am nächsten Morgen die Kühe wieder zur Weide trieb, kam ich erneut am Spritzenhaus vorbei. Dort sah ich viele Polizisten und SA-Leute mit Hunden. Ich hörte, wie sich die Männer empörten: »Der Pole ist weg!«
Mein Freund hatte mir eingeschärft, niemanden gegenüber zu gestehen, dass ich ihm bei der Flucht geholfen habe. Ich blieb stumm, verriet selbst meiner Mutter nicht, was ich getan habe. Ich war damals neun Jahre und zehn Monate alt. Innerlich freute ich mich über die gelungene Flucht des Freundes. Und ich war stolz auf meine Tat.
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