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Nebelbildungen im Hirn

Wie Marx und Engels »Ideologie« erklären

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 4 Min.

Weil »Ideologie« auch gegenwärtig auf dem Relais politischer Stromversorgung zwischen Negation und aggressiver Inanspruchnahme wechselt, dürfte das jüngste »Marx-Engels-Jahrbuch« von besonderem Interesse sein. Anhand der nun erstmals in ihrer authentischen Form eigenständig publizierten Textzeugnisse zur »Deutschen Ideologie« in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) befassen sich die Autoren mit deren Verständnis von Ideologie. Die Neuedition macht deutlich, dass Marx und Engels keine theoretische Grundlegung des historischen Materialismus beabsichtigten, wie im staatsoffiziellen Marxismus suggeriert wurde. Stattdessen war ihr Anliegen die Kritik der Philosophie nach Hegel in all ihrer Ausprägung. In ihrer Polemik begannen sie, eigene Positionen einer materialistischen Geschichtsschreibung zu entwickeln. Durch die chronologische Wiedergabe der Texte und ihrer Bezüge zueinander in der MEGA lasse sich, so Gerald Hubmann, die Genese der Gedanken und Begriffe schlüssig nachvollziehen.

Ulrich Pagel zeigt, wie der Ideologiebegriff bei Marx und Engels in Abgrenzung zu Max Stirner Konturen erlangte. Im Manuskript, das die beiden 1846 zunächst für eine geplante Vierteljahrsschrift fertiggestellt hatten und das die Verselbstständigung des »Einzelnen« als autonom handelndes Subjekt zum Inhalt hat, ist der Grundzug von »Ideologie« als Diskrepanz zwischen den »wirklichen Widersprüchen« des Individuums (das »Urbild«) und den Vorstellungen davon (dem »ideellen Abbild«) beschrieben. Bezeichnenderweise, so Pagel, bestimmt Marx den Begriff des Ideologischen neu in einer Passage über die Teilung der geistigen und materiellen Arbeit innerhalb der »herrschenden Klasse«. Demnach hat diese Differenzierung zur Folge, dass »der eine Theil als die Denker dieser Klasse auftritt, die aktiven conceptiven Ideologen derselben, welche die Ausbildung der Illusionen dieser Klasse über sich selbst zu ihrem Hauptnahrungszweig machen«. Ideologen als Erfüllungsgehilfen der materiell Herrschenden - dieser Topos kehrt immer wieder. Den kleinen ironischen Seitenhieb, dass damit Geld verdient wird, konnte sich Marx natürlich nicht verkneifen.

Im Verlauf der Auseinandersetzung mit Stirner konstatieren Marx und Engels eine einflussreiche Rolle der Kleinbürgerschaft in Deutschland. Nun verstehen sie Stirner & Co. nicht mehr als Ideologen der Bourgeoisie und Ideologie, nicht mehr allein als mentale Rechtfertigung der herrschenden Klasse. Sie sehen Ideologie in einem umfassenderen Sinn für eine illusionäre Gedankenwelt. »Ideologie« erfährt bei ihnen sowohl einen Bedeutungs- als auch einen Funktionswandel. Dass die begriffliche Prägung mit dem Stirner-Text »Sankt Max« und dem »I. Feuerbach« für das Autorenduo abgeschlossen gewesen sei, wie Pagel meint, ist allerdings zu bezweifeln. Auch hätte es gutgetan, die sozialökonomische Grundierung der Begriffs »Ideologie« in die allgemeine Begriffsgeschichte einzuordnen.

Christine Weckwerths Essay ist mit großem Atem geschrieben. Sie versteht die Polemik gegen die Philosophie nach Hegel und speziell gegen den deutschen »wahren Sozialismus« als Ideologiekritik. Wenn Marx und Engels Ideologie als wirklichkeitsfremde Denkweise bestimmten sozialen Trägern zuordnen, dann erfährt der Terminus eine Spezifizierung. »Die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit wird darin ihnen zufolge nicht einfach abgespiegelt«, merkt Christine Weckwerth an, sondern durch »Tendenzen einer Enthistorisierung, Dekontextualisierung, Idealisierung, Normierung … in spezifischer Weise transformiert«. Andererseits lässt sich aus der Adressierung von »Ideologie« auf eine nicht herrschende Klasse oder Schicht auch eine Verallgemeinerung des Begriffs herleiten. Schon in einem aus dem Stirner-Manuskript ins Feuerbach-Konvolut übernommenen Text heißt es: »Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genöthigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d. h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen. Die revolutionirende Klasse tritt von vornherein, schon weil sie einer Klasse gegenübersteht, nicht als Klasse, sondern als Vertreterin der ganzen Gesellschaft auf ...« Ideologie ist demnach ein klassenspezifisches Selbst- und Weltverständnis, wie Louis Althusser, sich auf Marx berufend, festhielt.

Marx und Engels verstehen die »Schlingen der Ideologie« also nicht allein negativ, sondern unter einem nationalen Aspekt - aufgrund der zurückgebliebenen gesellschaftlichen Zustände und dem »Mangel wirklicher, leidenschaftlicher, praktischer Parteikämpfe in Deutschland« als eine »unvermeidliche Richtung«. In einem nach der Kritik des »wahren Sozialismus« verfassten Fragment wird »die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins« als Entwicklung der »ideologischen Reflexe & Echos« des wirklichen Lebensprozesses bezeichnet. »Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind nothwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatirbaren, & an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses.« Wenngleich Ideologie als Generalisierung partikulärer Interessen ein illusorisches Element birgt, sprechen Marx und Engels ihr auf der praktischen Handlungsebene dennoch Relevanz zu.

Marx-Engels-Jahrbuch 2018, Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. De Gruyter, 287 S., geb., 60 €.

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