Flugsimulator am Bettrand

Bis zu 1,8 Millionen Männer pflegen in Deutschland ihre Angehörigen zu Hause

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 5 Min.

Michael Wegberg kümmert sich seit drei Jahren um seine an multipler Sklerose erkrankte Mutter. Nach dem Tod des Vaters hat er sie zu sich in die eigene Wohnung geholt. Der frühere Sportlehrer, inzwischen selbst Rentner, leistet nicht nur alltägliche Hilfsdienste oder begleitet die Patientin zu Arztbesuchen. Als sportlich versierter Mann hat er spezielle körperliche Übungen entwickelt, die die Beschwerden seiner Mutter spürbar lindern. Unterstützung fand er dabei im Internet auf Webseiten mit Beratungsangeboten.

Der deutlich größere Anteil der Angehörigenpflege wird nach wie vor von Frauen geleistet. Pflegende Männer wie Michael Wegberg sind in der öffentlichen Wahrnehmung wie auch in der wissenschaftlichen Forschung ein unterbelichtetes Thema. Ein Grund dafür ist, dass das Phänomen in seiner Größenordnung selbst von Fachleuten unterschätzt wird. Der Anteil der pflegenden Männer liegt in Deutschland je nach Berechnungsgrundlage immerhin bei 21 bis 37 Prozent. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich der Umfang des männlichen Engagements nahezu verdoppelt. Nach Schätzungen, die stark voneinander abweichen, pflegen hierzulande insgesamt bis zu 1,8 Millionen Männer Angehörige.

Die wenigen vorliegenden Studien heben hervor, dass Männer dies »aus Liebe und Dankbarkeit« tun, weniger aus Pflichtgefühl. Das gilt besonders, wenn sie sich um die eigene Partnerin auf der Basis einer langjährigen festen Beziehung kümmern. Der Pflegewissenschaftler Manfred Lange-hennig fasst die zentralen Befunde eines Forschungsprojektes so zusammen: »Männer versuchen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kompetenzen und Mitteln, für die geliebte Person das Beste herauszuholen.« Dabei verwenden die häuslichen Pfleger Bilder und Begriffe, die aus ihren beruflichen Erfahrungen stammen. Viele »Stilelemente aus der Arbeitssphäre«, so Langehennig, lassen sich in diesem geschlechtsspezifischen Pflegeverhalten identifizieren. Männer wollen eine möglichst effektive, organisatorisch perfekte Logistik aufbauen. Dafür eignen sie sich aktiv ein weitreichendes Wissen an, notieren ihre Beobachtungen und werten diese systematisch aus.

Nach einer US-amerikanischen Studie von Betty Kramer und Edward Thomson betrachten pflegende Männer ihre Tätigkeit als berufliches Projekt oder gar als »zu managende Aufgabe«. Im Kontrast zu den teils überengagierten Frauen achten sie mehr auf die Grenzen ihrer Belastbarkeit, sie betonen das »Funktionieren« und suchen rational-technische Lösungen. Die körperlichen Übungen des Ex-Sportlehrers Wegberg für seine erkrankte Mutter stehen für einen solchen explizit männlichen Pflegestil. Forscher Langehennig zählt weitere Beispiele auf: Ein ehemaliger Mechaniker und Hobbypilot hat einen Kran für seine gelähmte Frau gebaut und übt mit ihr vom Bettrand aus am Flugsimulator. Ein Schuster windelt seine Partnerin, indem er sich ihre Beine wie ein Werkstück über die Schultern legt. Die mit den Aufgaben verbundenen Emotionen werden dabei eher vernachlässigt: Männliche Pfleger, beobachtet Langehennig, sprechen »in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld kaum über ihre Gefühle«. Nützliche Informationen holen sie sich, wie Michael Wegberg, eher aus Fachforen im Netz.

Soweit sie noch erwerbstätig sind, stoßen pflegende Männer auf ähnliche Hindernisse wie engagierte Väter. Flexible Arbeitszeiten dienen in Unternehmen vorrangig wirtschaftlichen Interessen und nicht der Zeitsouveränität von Beschäftigten mit privaten Verpflichtungen. Anwesenheitskultur und Vorgesetzte mit einer traditionellen Vorstellung von Geschlechterrollen blockieren entsprechende Wünsche. Auch Betriebs- und Personalräte sehen Pflegeprobleme nur selten als zentrale Aufgabe. Doch in Befragungen stellt sich überraschend oft heraus, dass Mitarbeiter nicht nur »zwischen Kind und Karriere«, sondern auch zwischen ihrem Beruf und der Versorgung von Angehörigen balancieren müssen. Das gilt besonders bei einem hohem Altersdurchschnitt der Belegschaft.

Strategien der Arbeitgeber, die auf individuelle Lebensläufe abgestimmt sind, müssen mit biografischen Brüchen bei Frauen wie Männern rechnen. Es reicht deshalb nicht, sich nur um Mitarbeiterinnen mit Pflegepflichten zu kümmern. Wie beim Thema Elternschaft gehört der männliche Teil der Beschäftigten mit ins Boot. Ihr Engagement beginnt allerdings oft erst nach der Verrentung. Eine Ursache dafür sieht Eckart Hammer, Gerontologe an der Fachhochschule Ludwigsburg, in der »höheren Verbreitung der Alzheimer-Demenz bei Frauen«. In »gemischten Pflegearrangements« würden dann häufig mehrere Helfende eingebunden und verstärkt professionelle Dienste in Anspruch genommen; zudem entscheiden sich Männer nach Hammers Beobachtung früher für eine Unterbringung im Heim.

In den Debatten um Vereinbarkeit steht die Pflege meist im Schatten des Themas Elternschaft. Die Geburt von Kindern ist ein positives Ereignis, mit dessen wohlwollender Begleitung sich Politiker wie Firmenchefs schmücken können. Gebrechliche Alte eignen sich dagegen kaum für Hochglanzbroschüren. Mit ihnen geht es nicht aufwärts, sondern abwärts. Trauer, Leid und vor allem Tod sind im öffentlichen Raum Tabuthemen. Die Sorge um Schwerkranke kann deprimierend sein, sie ist kaum planbar und zieht sich häufig auch länger hin als die Versorgung von Säuglingen: Die Zeiträume schwanken zwischen wenigen Wochen und mehreren Jahrzehnten, im Durchschnitt sind es acht Jahre.

Wie können vor diesem Hintergrund pflegende Männer unterstützt werden? In einer Studie der beiden großen christlichen Kirchen von 2009 erklärten sich immerhin zwei Drittel der männlichen Befragten bereit, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, damit sie sich um Angehörige kümmern können. Jeder siebte Mann würde nach eigenen Angaben seine Stelle befristet sogar ganz aufgeben. 27 Prozent der Männer (Frauen in der Vergleichsgruppe nur 13 Prozent) verweigerten hingegen grundsätzlich die Pflege von Familienmitgliedern. Als Haupthindernis nannten sie die Sorge um das gemeinsame Haushaltseinkommen.

Gendersensible Angebote, die sich an männliche Pflegende richten, sollten auf jeden Fall niedrigschwellig sein. Die gemeinnützige Hertie-Stiftung schlägt in einer Expertise gar eine geschlechtsspezifische Kommunikationspolitik vor: Männer dürften nicht zu emotional angesprochen werden. Moralische Argumente nützen wenig, hebt auch Manfred Langehennig hervor: »Motivationskampagnen und Appelle an den Familiensinn der Männer sind letztlich auf Sand gebaut, wenn sie nicht die materiellen Grundlagen der Familie berücksichtigen.« Entscheidend für den höheren Frauenanteil, so der Forscher, seien »die krassen Ungleichheiten« zwischen den Geschlechtern »in ihrer Beschäftigungskarriere und in ihrem Lohnniveau«: 44 Prozent der häuslich Pflegenden verfügen über ein Einkommen von unter 1000 Euro im Monat.

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