»Da war ich die Deutschen los«

»Glasnost, Perestroika und die Russlanddeutschen« - Notizen von einer ideologischen Tagung

Bis zu ihrem siebten Lebensjahr sprach sie nur Plattdeutsch. Katharina Neufeld, die in einem Dorf in Kasachstan aufgewachsen ist, hat erst in der Schule Russisch gelernt und über ihre Identität lange nicht nachgedacht. Ihrem Pass zufolge war sie Staatsangehörige der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, UdSSR, Nationalität: deutsch. Diskriminierung empfand sie erst, als sie drei Mal Anlauf nehmen musste, um Geschichte zu studieren. Ihr Wunsch, wissenschaftlich zu arbeiten, sei ihr verwehrt worden; sie wurde Lehrerin. Erst mit der Perestroika unter Michail Gorbatschow konnte sie an der Universität Kuibyschew (heute: Samara) eine Aspirantur aufnehmen.

»Es tut mir leid, dass ich als Lehrerin so viel Ideologie vermittelt habe«, sagte Katharina Neufeld am Dienstag bei einem Podiumsgespräch in Berlin. Ein herzhaft offenes Bekenntnis, für das ihr nicht gedankt wurde. Ein sich als »aus dem Osten, leider!« outende Frau aus dem Publikum griff die seit 1997 in der Bundesrepublik lebende Wissenschaftlerin an, die das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold aufgebaut und bis 2014 geleitet hat: »Warum haben Sie überhaupt in der Sowjetunion Geschichte studiert? Ich habe mich in der DDR bewusst von Ideologie ferngehalten.«

Nun hätte man natürlich trefflich darüber streiten können, ob es überhaupt ideologiefreie gesellschaftliche Sphären gibt und was »Ideologie« eigentlich bedeutet. Zu einem philosophischen Disput kam es nicht. Katharina Neufeld erhielt aber aus dem Publikum wie auch auf dem Podium solidarischen Beistand.

»Glasnost, Perestroika und die Russlanddeutschen« war die Tagung überschrieben, zu der ins Domizil der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur die Deutsche Gesellschaft und die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland eingeladen hatten. Es war an Alfred Eisfeld, Leiter des Instituts für Deutschland- und Osteuropaforschung in Göttingen, einen großen historischen Bogen zu spannen, beginnend mit Zar Iwan IV., genannt »Grosny« (furchtgebietend, gestreng), der deutsche Militärfachleute ins Land gerufen hatte, damit sie ihm eine Artillerie aufbauen, mit der 1553 Kasan und drei Jahre darauf 1556 Astrachan erobert werden konnten. Peter I., der Große, holte nicht nur Militärs, sondern auch deutsche Ärzte und Gelehrte zu sich.

Deutsche Forschungsreisende vermittelten den Zaren konkrete Vorstellungen von ihren Besitzungen, Bodenschätzen und Völkerschaften. An der Erkundung und Erschließung des russischen Reiches waren auch unter Katharina II. zahlreiche Deutsche beteiligt, die vom weiten Land als »Paradies auf Erden« schwärmten. Eisfeld räumte mit der Legende auf, dass sich nur reiche und gebildete Deutsche in Russland ansiedelten. »Viele waren mittellos.« Sie wurden staatlich gefördert, was der wirtschaftlichen Entwicklung zu Gute kam. »Mit dem Übergang vom dynastischen Staat zum Nationalstaat genügte jedoch nicht mehr der Treueschwur auf den Herrscher, sondern es wurde Assimilierung gefordert.«

Wie die Erfahrungen von Katharina Neufeld zeigen, erstarben die deutsche Sprache und Kultur, trotz staatlichen Drucks, Schließung deutscher Schulen, Theater, Klubs etc. in diversen Perioden, nie gänzlich. Die repressiven Maßnahmen erweckten erst eine Art deutschen Nationalgefühls unter den lange vor der deutschen Reichsgründung eingewanderten Pfälzern, Schwaben, Franken etc. Die nach dem Sturz des Zaren erhobene Forderung der Deutschen in Russland nach Autonomie erfüllte sich nicht, so Eisfeld, und wurde auch unter Gorbatschow ständig vertagt. Auf die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, 1918 als Arbeitskommune gegründet und mit den Deportationen nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die UdSSR aufgelöst, kam der Referent nicht zu sprechen. Er erinnerte an die Hungersnöte 1921/22 sowie 1931/32, die dem Kriegskommunismus, dem Kampf gegen das »Kulakentum« und der Kollektivierung geschuldet waren und die »deutsche Volksgruppe hart trafen«.

Eisfeld berichtete über Befehle des Geheimdienstes (GPU) in den 1920er Jahren, die »Germanski« (Deutschländische) zu überwachen und auszuforschen. Ein »harter Einschnitt« im Leben der Deutschen in der Sowjetunion markierte das Jahr 1933. Die von Adolf Hitler geforderte und von dessen Chefideologen Alfred Rosenberg »begründete« Forderung nach »Lebensraum im Osten« wurde von Moskau zu Recht als Bedrohung empfunden, zu Unrecht jedoch wurden die in der Sowjetunion lebenden Deutschen in Kollektivhaft genommen, als »faschistische Spione« und »Diversanten« denunziert. Die Deportation von Hunderttausenden nach dem Einfall der Wehrmacht am 22. Juni 1941 nannte Eisfeld eine »Fortsetzung der ethnischen Säuberung der 30er Jahre«. 300 000 von 1,5 Millionen Deutschen starben an Ausbeutung in Uran- und Goldminen und in der Forstwirtschaft. »Das Auseinanderreißen von Familien, Männern und Frauen wirkte sich verheerend für die deutsche Volksgruppe aus, es wurden keine Ehen geschlossen, keine Kinder mehr geboren.«

Auffallend war, dass einige Tagungsteilnehmer den Begriff »Großer Vaterländischer Krieg« für den Abwehrkampf der Sowjets gegen die deutsch-faschistischen Aggressoren explizit ablehnten, weil er - so Dietmar Schulmeister, der im Alter von neun Jahren mit seinen Eltern in die Bundesrepublik kam und heute Vize-Vorsitzender der Landsmannschaft ist - »ideologisch besetzt ist«. Was, wie in Pausengesprächen zu erfahren war, manche Zuhörer verwunderte.

Interessant war dann der Disput unter den Wissenschaftlern über die korrekte Bezeichnung der Deutschen aus Russland oder Russlanddeutschen. Der Slawist Hans-Christian Petersen lehnte den Begriff »Volksgruppe« ab, da er »völkisch konnotiert ist und nicht der Lebensrealität entsprach und entspricht«. Er verwies auf die Heterogenität der Deutschen in der Sowjetunion wie auch der Russlanddeutschen in der Bundesrepublik und betonte: »Vielfalt ist keine Schwäche, sondern eine Stärke.«

Sichtlich berührt und gerührt waren alle Anwesenden vom Vortrag einer Projektleiterin von Memorial Deutschland. Marit Cremer hat Russlanddeutsche nach ihrer Identifikation, den Motiven ihrer Ausreise, ihren Erfahrungen in Deutschland und ihrer politischen Verortung befragt. »Wir waren Pionieri, Komsomolzi, Kommunisti«, oder: »Wir waren Sowjetmenschen«, lauteten die Antworten. Überrascht war die Historikerin darüber, wie wenig die Probanden über die Herkunft ihrer Ahnen und die Deportation ihrer Eltern zu Stalins Zeiten wussten. Die Auswanderung erfolgte auf Grund der desaströsen wirtschaftlichen Lage in der postsowjetischen Ära unter dem Trunkenbold Jelzin sowie wegen der (schon unter Gorbatschow) entflammten Nationalitätenkonflikte und teils ob politischer Verfolgung - kurzum wegen »dieser Unruhe, dieses Auseinanderfallens, dieser ganz komischen Stimmung«, wie eine Interviewte Marit Cremer offenbarte. »War die Perestroika wirklich nötig?«, hatte jene sie gar gefragt; diese Russlanddeutsche wäre wohl nicht ausgewandert, wenn sie in der Umbruchszeit nicht ihren Job verloren hätte und in Armut gesunken wäre.

Marit Cremer schilderte die bürokratischen Hürden, die in Russland und in der Bundesrepublik zu überwinden waren, vielfach entwürdigende Bittstellergänge und viele offene Hände korrupter Beamter. Mussten die Deutschen in der Sowjetunion ihre Namen russifizieren, so bei ihrer Auswanderung wieder eindeutschen. Eine mit ihrer deutschen Abstammung hadernde Frau hatte in der Sowjetunion ihren Vatersnamen Eberhardt gegen Georgiew eingetauscht: »Da war ich endlich die Deutschen los.« Dann wieder retour: »Nun bin ich die Russin los.« Marit Cremer sprach von »massiven Abwertungserfahrungen« hier wie da, »spiegelbildlichen Erlebnissen« in der Sowjetunion und in der Bundesrepublik. Die dem Stigma »Faschisten« entkommenen Russlanddeutschen sahen sich in der Bundesrepublik mit dem Vorwurf konfrontiert, »Erbschleicher der deutschen Nationalität« zu sein. Die Vertreterin von Memorial berichtete zudem von einer Russlanddeutschen, die von ihren Arbeitsplatz weggemobbt wurde, »wegen komischer Sprache, komischen Klamotten, komischer Frisur«. Die Folge derartiger Überheblichkeit, Arroganz und Ignoranz der Aufnahmegesellschaft sind Überassimilierungsanstrengungen in nicht wenigen russlanddeutschen Familien.

Negative Eindrücke hatte zunächst auch Walter Gauks, Chef der Jugendorganisation der Landsmannschaft, der als 15-Jähriger in die Bundesrepublik gekommen ist: »Das erste Aufnahmelager war schön. In Magdeburg und Bernburg habe ich dann aber rassistische Angriffe erlebt. Deshalb war ich in der Schule ein Streber. Ich wollte deutscher als die Deutschen sein.« Der sich engagierende Gauks gehört zu den Ausnahmen unter Russlanddeutschen, wenn die These von Marit Cremer stimmt, dass jene sich kaum politisch oder zivilgesellschaftlich betätigen, da sie in der Sowjetunion erfahren hätten: »Politik ist ein vermintes Feld.«

Widerlegt wurde das Klischee von den »kriminellen Russen«, die in bundesdeutschen Medien in den 90er Jahren Schlagzeilen machten. Ursächlich verantwortlich dafür war der niedersächsische Kriminalpsychologe Christian Pfeiffer, der ein Gefängnis aufgesucht hatte, in dem 30 bis 40 Prozent der Häftlinge Russlanddeutsche waren. »Sie sind dort zwecks gemeinsamer Betreuung, etwa durch Dolmetscher, zusammengeführt worden«, informierte Eisfeld. Was jedoch folgte, war die mediale Pauschalisierung. (Übrigens: Pfeiffer war der Filou, der im »Zwangstöpfen« in DDR-Kinderkrippen Erziehung zum Untertanengeist erkannt haben will.)

Andere hierzulande verbreitete Vorurteile diskreditieren die Russlanddeutschen zu Hilfsempfängern, Putin-Fans und AfD-Wählern. Wenngleich nicht mit konkreten Fakten und Zahlen unterfüttert, so wurde auch diesen zu Recht vehement widersprochen. Die Botschaft der Tagung lautete: Die Russlanddeutschen sind von Opfern und Hilfesuchenden zu Leistungsträgern avanciert, in verschiedenen Berufen erfolgreich.

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