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Party, Konfetti und Gerangel
Bei den CSD-Paraden spielt Politik eine Rolle, in Kreuzberg wird der Zug vorzeitig aufgelöst
Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass sich die homo- und transsexuellen Besucher der New Yorker Bar Stonewall Inn gegen die Polizeirepression zur Wehr setzten. Auch wenn heute beim Christopher Street Day anstelle von Ziegelsteinen Konfettischnipsel durch die Luft fliegen und die politischen Forderungen in der lauten Popmusik untergehen, will der CSD seinen historischen Wurzeln treu bleiben und sich auch weiterhin als Demonstration verstehen. So zogen laut den Veranstaltern bis zu 300 000 Menschen unter dem diesjährigen Motto »50 Jahre Stonewall - Jeder Aufstand beginnt mit deiner Stimme« vom Kurfürstendamm bis zum Brandenburger Tor.
Dass der CSD durchaus politisch ist, merkt man spätestens beim Wagen von Quarteera, einem Verein, der sich für queere russischsprachige Menschen einsetzt. Auf Schildern wird dort unter anderem den Opfern der staatlichen Verfolgung von Homosexuellen in Tschetschenien gedacht. Nikita trägt eines davon. Gleich vorweg sagt er, dass er kein Aktivist ist. Nikita kommt eigentlich aus Weißrussland. Grund dafür, dass er am Samstag trotzdem demonstriert, sei der dortige Präsident Alexander Lukaschenko, der über sich selbst sagt: »Lieber Diktator sein als schwul.« »Es ist wichtig, dass es hier die Möglichkeit solch einer Parade gibt«, meint Nikita, »auch um zu zeigen, was in Ländern wie Weißrussland nicht möglich ist.«
Was in Weißrussland unmöglich wäre, ist das, was Cosima Kaibel an der Parade mag: die Freizügigkeit der Teilnehmenden - egal welchen Alters, Geschlechts oder Sexualität. Dass viel nackte Haut auch auf dem CSD nicht immer problemlos möglich ist, musste sie letztes Jahr selbst erleben. »Da hat jemand nicht gecheckt, dass das hier eine Demo ist und mich und meine Freundin von hinten angegrabbelt«, sagt sie. Deswegen ist Kaibel dieses Jahr auch mit einem eigenen Wagen unter dem Motto »No Grabbel - No Trouble« an den Start gegangen.
Generell wünscht sie sich, dass von den insgesamt 100 Wagen wieder mehr mit politischen Forderungen dabei sind. Denn in den letzten Jahren seien es mehr Trucks von Banken und Großkonzernen auf der Parade geworden. Bei diesen würde sie sich immer wieder fragen, wie ernst die Unternehmen den Kampf für die Gleichberechtigung der queeren Community nehmen oder ob es sich bei ihrer Präsenz auf dem CSD nur um kluges Marketing handele.
Deutlicher wird die Kritik an der großen Parade bei der Alternativveranstaltung »Radical Queer March«, der am Samstag um 18 Uhr mit gut 1500 Teilnehmern auf dem Kreuzberger Mariannenplatz gestartet ist. Bereits im Vorfeld hat Organisatorin Leila Schwarz dem »nd« gesagt, dass es beim alternativen CSD darum gehe, queere Politik mit Kapitalismuskritik zu verbinden. Im Gegensatz zur Parade in Charlottenburg startet die Demonstration am Mariannenplatz deshalb auch mit klassischen Demoansprachen. Dass diese nicht für alle Teilnehmenden hörbar sind, liegt an den lautstarken Anhängern der als antisemitisch bewerteten Kampagne »Boykott, Desinvestment und Sanktionen« (BDS). Bereits im Vorfeld hat die Kampagne zu einem Schlenkerkurs bei den Organisatoren geführt. Erst sind die BDS-Aktivisten ausgeladen worden, anschließend wurde zurückgerudert. Nachdem es in Kreuzberg dann gewalttätige Übergriffe der BDS-Anhänger gegeben haben soll, wird der Block ausgeschlossen. Diese widersetzen sich, weshalb eine Polizeikette die zwei Teile der Demonstration voneinander trennt. Sichtlich bemüht 50 Jahre nach dem Stonewall-Aufstand die Polizei aus der Veranstaltung zu halten, lassen die Organisatoren die BDS-Anhänger dann doch wieder in kurzem Abstand mitlaufen, bevor die Demonstration vorzeitig aufgelöst wird.
Auch beim letztmaligen Kreuzberger CSD 2016 hat es Uneinigkeit im Umgang mit den BDS-Aktivisten gegeben, die im Nachhinein zur Spaltung des Organisationsteams führten. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) wird sich auch dieses Jahr die Ereignisse auf dem CSD genau anschauen. Bereits in der Vergangenheit ist es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen gekommen. »Diese reichten bis hin zu Angriffen auf Personen, die mit israelischen Symbolen an den Veranstaltungen teilgenommen haben«, sagt deren Mitarbeiter Daniel Poensgen.
Robert, der am Samstag bei beiden Demonstrationen dabei ist, sieht das genauso. Wohlgefühlt habe er sich bei keiner Veranstaltung: »Mit Daimler und anderen ist die große Parade eher ein Volksfest, aber mit Antisemiten zu demonstrieren, will ich ehrlich gesagt auch nicht.«
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