Kinder auf den Markt!
Tim Wolff nimmt in dieser Woche eine Reportage in der »FAZ« auseinander
Man kann mittels kritischer Analyse, mit soziologischen Studien usw. die Deformationen der kapitalistisch eingerichteten Gesellschaft herausarbeiten - oder man liest fröhliche Reportagen im »FAZ«-Teil »Beruf und Chance«: »Luise und Ella sind hoch konzentriert. Während Luise neuen Mais in die Popcorn-Maschine füllt, zählt Ella die Einnahmen … Stolze 214 ›Nippis‹ haben die beiden 11 Jahre alten Mädchen schon beisammen. Und das gleich am ersten Tag, an dem ihr Popcorn-Start-up in Betrieb ist. ›Wir haben sehr viel Stress‹, sagt Luise. ›Aber das Geschäft läuft gut.‹« Wie bitte, was?
»Die beiden Freundinnen sind Teilnehmerinnen des Projektes ›Mini Nippes‹, einer sogenannten Kinderstadt … Kinderstädte sind große, temporäre Planspiele, meist für Kinder zwischen 9 und 12 Jahren, die eine Zeitlang die Erwachsenenwelt, besonders die Berufswelt, möglichst wirklichkeitsgetreu nachspielen. In Mini-Nippes verdienen Luise, Ella ... ihr eigenes Spielgeld in Form der Kunstwährung ›Nippis‹. Die lässt sich innerhalb von Mini-Nippes wiederum für den eigenen Konsum einsetzen, zum Beispiel für den Kauf von selbstgeschnippeltem Obstsalat (4 Nippis), frisch gemixten Milchshakes (8 Nippis) oder 5 Minuten eines von den Kindern angeleiteten Entspannungskurses im Chill-out-Zelt (2 Nippis).« Man kann einiges über den Menschen in seinem Spätstadium sagen, aber dass er das Elend seiner Zurichtung nicht mit Verve zelebrieren würde, das gewiss nicht. Aber was rede ich, wenn es »FAZ«-Kinderreporterin Nadine Bös gibt: »Wer nicht seinen eigenen Betrieb gründet, kann in Mini-Nippes Stellen beim - ebenfalls von Kindern betriebenen - Jobcenter bekommen.« Nein, das ist kein Witz - und ich habe zu wenig Nippis für all die Entspannungskurse, die ich nach der Lektüre solcher Sätze benötige.
Aber was wäre ein solcher Wahnsinn ohne die Goutierung durch einen Professor: »›(Kinderstädte) haben eine Funktion, noch bevor Berufsorientierung stattfindet‹, sagt der Pädagoge. ›Manche Kinder gehen dort raus und haben handwerklich unheimlich viel gelernt. Andere wissen, dass man morgens vor Arbeitsbeginn am besten eine Besprechung abhält, um sich zu organisieren und den Tag zu planen.‹« Einen Tag in einem Leben, das keiner leben müssen sollte, schon gar nicht zwischen 9 und 12. »Die Kinder haben Benno ... zu ihrem Bürgermeister gewählt. … Seine ersten Maßnahmen: ›Ich habe eine Lohn- und eine Steuererhöhung durchgesetzt.‹ Im vergangenen Jahr ist nämlich das Finanzamt von Mini-Nippes irgendwann pleitegegangen ... ›Das möchte ich gern vermeiden.‹ Deshalb gehen nun von 9 Nippis, die alle Kinder für eine halbe Stunde Arbeit verdienen, immer 3 als Steuern an das Finanzamt.« Was zur Hölle soll das? »›Es ist super, dass man hier so viel selbst entscheiden kann‹, sagt Luis. ›Man kann Dinge tun, die sonst nur die Eltern machen.‹« Wie super? »Einige Kinder haben den Wunsch an den Bürgermeister herangetragen, Hartz IV einzuführen. Kurzes Beratschlagen mit den Amtshelfern, dann eine rasche und etwas barsche Entscheidung. ›Das wird nichts. Dafür haben wir kein Geld.‹« Findet daran jemand etwas bedenklich? »Ein Kritikpunkt, den Pädagoge Deinet formuliert: Häufig versammle sich ... der Nachwuchs von Mittelschichteltern«, der - no shit, Sherlock - »solcherlei Orientierung … gar nicht am nötigsten« habe. Die Eltern freut es trotzdem: »›Ich bin berufstätig und froh, dass Ada so eine schöne Beschäftigung in den Ferien hat.‹«
Das elende Bürgertum drückt sein marktkonformes Scheißleben noch dann seinen Adas, Luis’, Bennos, Luises und Ellas rein, wenn die einmal ein paar Wochen das Leben genießen könnten. Andererseits sind die vermutlich bereits hoffnungslos verloren. »Was ist aus der guten alten Evolution geworden?«, scherzte George Carlin einmal. »Das Kind, das die meisten Murmeln frisst, wächst nicht auf, um eigene Kinder zu bekommen.« Wäre es doch nur so mit gottverdammten Nippis!
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