Das unsichtbare Risiko

Impflücken bei Kleinkindern sind nach neuesten Zahlen größer als bisher angenommen

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

In Deutschland gibt es trotz steigender Impfquoten noch deutlichere Impflücken bei Kleinkindern als bisher angenommen. So war zum Beispiel mehr als jedes fünfte 2015 geborene Kind in den ersten beiden Lebensjahren nicht oder nur unvollständig gegen Masern geimpft. Zu diesem Ergebnis kommt der aktuelle Arzneimittelreport der Barmer, der am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde.

Hochgerechnet auf Basis von Versichertendaten sind damit bundesweit knapp 166 000 Zweijährige ohne vollständigen Masernimpfschutz. Auch bei anderen Impfungen gibt es Defizite. So war jedes fünfte zweijährige Mädchen nicht vollständig gegen Röteln geimpft, in absoluten Zahlen 81 000 Kinder. Für alle 13 Impfungen, die von der Ständigen Impfkommission für Kinder in den ersten beiden Lebensjahren empfohlen werden, ergibt sich, dass 3,3 Prozent des Jahrgangs 2015 überhaupt nicht geimpft sind, das sind 26 000 Mädchen und Jungen. Auch bei Kindern im einschulungsfähigen Alter ist bei keiner der 13 Infektionskrankheiten ein Durchimpfungsgrad von 90 Prozent erreicht. Die bislang vom Robert-Koch-Institut erhobenen Zahlen fallen leicht günstiger aus, weil der Impfstatus anhand der vorgelegten Impfpässe bei Schuleingangsuntersuchungen ermittelt wird. Kinder ohne Impfpass werden dabei nicht berücksichtigt. Das führte zu unrealistischen Impfraten, während die Barmer von real verabreichten Impfungen ausging, die bei ihr abgerechnet wurden.

Eine partielle Impfpflicht für Masern naht, ein Gesetzentwurf liegt vor und löste bereits kontroverse Debatten aus. Barmer-Vorstand Christoph Straub hält es durchaus für sinnvoll, dass Kinder nur geimpft die Kita besuchen dürfen. Dennoch ist er skeptisch. Das Problem des Impfschutzes sei medizinisch und sozial zu komplex, um es mit einem einzigen Gesetz lösen zu können. Ein Aspekt dabei: Ein Impfstoff ausschließlich gegen Masern ist in Deutschland momentan gar nicht erhältlich, gängig ist die Dreifachkombination gegen Masern, Mumps und Röteln. Von einer Impfpflicht gegen Röteln und Mumps ist aber nicht die Rede - auch das müsste der Gesetzgeber noch regeln, bevor die Vorschrift in Kraft treten kann. Deshalb setzen Straub und auch Daniel Grandt, einer der Autoren des Arzneimittelreports 2019, auf mehr und vor allem strukturierte Informationskampagnen über Sinn und Zweck von Impfungen, aber auch über die Risiken der 13 Krankheiten, gegen die eine Immunisierung empfohlen wird.

Weil heute kaum noch jemand in seiner unmittelbaren Umgebung den Verlauf von Masern oder Diphterie erlebe, würden diese Krankheiten eher unterschätzt. Schon die Zahlen der Barmer selbst illustrieren den Effekt für Masern; 2017 erkrankten insgesamt 66 Versicherte der Kasse, soweit gemeldet, an dieser Infektion. Das sind 5,2 je 100 000 Versicherte.

Aber auch eine Impfpflicht hat Nebenwirkungen. Im Barmer-Report sind mehrere Aufsätze von Wissenschaftlern zum Thema Impfakzeptanz zu finden. In einer Online-Simulation zeigte sich demnach, dass nach Einführung einer Zwangsimpfung die Akzeptanz einer zweiten, freiwilligen Impfung um 39 Prozent sank. Auch in der Realität erreicht die Impfpflicht nicht unbedingt das Ziel einer ausreichenden Immunisierung der Bevölkerung oder sogar die Ausrottung von Krankheiten. In Italien wurden bei vorgeschriebenen Impfungen gegen Diphterie, Tetanus, Poliomyelitis (Kinderlähmung) und Hepatitis B Quoten von 93 Prozent erreicht, nicht aber die nötigen 95 Prozent. Erst damit wäre die Herdenimmunität groß genug, um Individuen zu schützen, die wegen einem unterdrückten Immunsystem zum Beispiel während einer Krebstherapie nicht geimpft werden können. Die in Italien zunächst nicht vorgeschriebene Impfung gegen Masern erreicht nur eine Quote von 87 Prozent. Ausbrüche der Krankheit führten dann 2017 dazu, auch eine Masernimpfpflicht für alle Kinder und Jugendliche unter 17 Jahren einzuführen.

Nach einer aktuellen Mitteilung des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller hält die Pharmaindustrie die Ausrottung der Masern für möglich und fordert ihrerseits, neben der partiellen Impfpflicht, entsprechende Impf-Angebote in Kitas, Schulen, Betrieben, Arztpraxen, Apotheken und Gesundheitsämtern.

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