Was ist Faschismus?

Man muss wissen, was man bekämpft. Ein Erklärungsversuch.

  • Helmut Dahmer
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Entwicklung des politischen Begriffs »Faschismus« währt nun schon ein Jahrhundert. Er bezeichnete zunächst die Kampfbünde Mussolinis und deren Aufgabe, die anarchokommunistisch, internationalistisch und pazifistisch orientierten italienischen Arbeiter- und Räteorganisationen der ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg gewaltsam niederzuschlagen.

Benito Mussolini gewann mit seiner ultranationalistisch-kolonialistischen Ideologie und Politik die tatkräftige Unterstützung der besitzenden Klasse (Landbesitzer, Industrielle, Bankiers) und der Exekutivorgane Heer und Polizei. Diesem Beispiel folgten 1933 Adolf Hitler in Deutschland, Engelbert Dollfuß in Österreich und António de Oliveira Salazar in Portugal. Dann Ioannis Metaxas in Griechenland und Francisco Franco in Spanien und im Weiteren eine Reihe von diktatorischen Regimen in Osteuropa und Lateinamerika.

Gewinne und Kriege

Die Funktion der faschistischen Bewegungen und Regimes war und ist es, die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der kapitalistischen Wirtschaft in der Krise gewaltsam zu sichern. Die Kontrolle über die nationalen Wirtschaften - und über deren Verkettung mit der Weltwirtschaft - bleibt einer (schrumpfenden) Gruppe von Finanzkapitalisten überlassen, die ausschließlich auf maximale Gewinne (Kapitalakkumulation) aus und in der Lage ist, Parteien und paramilitärische Verbände zu finanzieren, sofern sie den für sie günstigen Status quo absichern. Dieser Status quo bedeutet permanente Kriege um Bodenschätze, Absatzmärkte und Einflusszonen; Verelendung ganzer Bevölkerungen in den »unterentwickelten« Ländern und die Verwüstung unseres Habitats durch Erwärmung des globalen Klimas.

Mobilisierung

Die Praxis faschistischer Demagogen (Heinz-Christian Strache, Alexander Gauland oder Jair Bolsonaro) und ihrer »blauen« oder braunen Organisationen besteht in der Agitation und Mobilisierung (a) derjenigen Teile der ständig wachsenden lohnabhängigen Bevölkerung, die keine Arbeit finden und darum zu Almosenempfängern geworden sind, (b) der schrumpfenden scheinselbstständigen, »verunsicherten« Zwischenschichten und (c) der hoffnungslosen und desorientierten Paria-Schichten. Aus diesen Massen von orientierungslosen und verängstigten Menschen schmieden die Agitatoren-Diktatoren Gefolgschaften, denen sie - als vermeintlich ebenfalls »kleine«, demnächst aber große und in jedem Fall starke Männer (oder auch Frauen) - Besserung versprechen: vor allem eine Abrechnung mit den vermeintlich an ihrer Misere Schuldigen.

Die faschistischen Agitatoren sind Meister in der Lenkung der Ressentiments ihrer Klientel. Sie zeigen ihr die »wahren Schuldigen«, in der Regel wehrlose Minderheiten: Juden, Sinti und Roma, »Asoziale«; »Volksfeinde«, »Volksverräter« und Fremde aller Art: Ausländer, Flüchtlinge, Migranten, Andersgläubige und Atheisten, Homosexuelle und andere Abweichler. Deren Pauperisierung und »Beseitigung« wird in Aussicht gestellt. Je nach Kräfteverhältnis und Volksstimmung läuft das auf Reglementierung und Konzentration (in Lagern dieses oder jenes Typs), gezielte Verelendung, Enteignung, Ausweisung, Vertreibung oder »Liquidierung« hinaus.

Als Ultra-Nationalisten versprechen die faschistischen Demagogen die gewaltsame Rettung (Wiederherstellung, Verteidigung und ruhmreiche Vergrößerung) der Nationalstaaten, die seit 100 Jahren ständig an Bedeutung verlieren. Das soll zum einen durch die »Sicherung« der nationalen Grenzen gewährleistet werden - also durch Wälle und Mauern, Polizei- und Militärpatrouillen -, zum andern durch gewaltsame Rücktransporte in als »sichere Zufluchtsstaaten« ausgegebene Länder, deren politische Führungen zu diesem Zweck großzügig bestochen werden.

Homogenisierung

Durch diese und ähnliche Maßnahmen sollen Millionen von Kriegs-, Hunger- und Klimaflüchtlingen abgeschreckt werden, die versuchen, dem Elend ihrer afrikanischen, lateinamerikanischen oder mittelöstlichen »Heimat«-Länder in die wenigen Wohlstandsoasen zu entkommen, ihren Teil am Weltreichtum begehrend. Den dortigen Erniedrigten und Beleidigten wird eine »bevölkerungspolitische« Homogenisierung ihrer ethnisch inhomogenen Gesellschaften in Aussicht gestellt, also eine rassistische »Säuberung des jeweiligen Volkskörpers« von allen Menschen, die nicht seit Generationen schon in dem jeweiligen Land ansässig waren. Dieses Homogenisierungsprogramm ist eine Kriegserklärung an alle für nicht-zugehörig erklärten Menschen innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen.

Im Laufe der vergangenen 150 Jahre haben sich die modernen Gesellschaften Europas und Amerikas aus Gesellschaften kleiner und mittlerer Eigentümer in Gesellschaften abhängig Beschäftigter verwandelt. Diese Umbildung der Sozialstruktur hat das Aufkommen von neuartigen, »massenfeindlichen Massenbewegungen« ermöglicht, denn das Leben in »Abhängigkeit« und die Erfahrung, dass totalitäre Regime in der Lage sind, straflos jede »autonome« Regung in der Bevölkerung zu ersticken, hat die Widerstandskräfte gerade in den entwickeltsten Ländern nachhaltig geschwächt. Die oft beklagte politische Apathie weiter Teile der Bevölkerung hat darin ihren Grund.

Autoritäre Charaktere

Überwiegen sogenannte autoritäre (oder faschistoide) Charaktere, die sich konformistisch, also autoritätshörig verhalten, alles Abweichende hassen und zu Projektionen, zum Aberglauben und zur Stereotypisierung neigen, dann steht es schlecht um die Verteidigung der parlamentarischen Republiken, geschweige denn um deren ausstehende wirtschaftsdemokratische Fundierung.

Darum wiederholt sich gegenwärtig in Europa und Amerika die aus den dreißiger Jahren bekannte Verwandlung schwächelnder parlamentarischer Regime in autoritäre, wie in Polen, Ungarn und Italien. Anfang der 1930er Jahre waren die untereinander zerstrittenen Parteien, die für eine gesellschaftliche Alternative eintraten und an das Selbsterhaltungsinteresse der Bevölkerung appellierten (»Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!«), außerstande, den Sieg der faschistisch begeisterten Massen und ihrer mächtigen Verbündeten zu verhindern. Die Erinnerung an das damalige Desaster der nationalen Aufbrüche beginnt aber zu verblassen, und das Interesse, die eigenen Privilegien auf Kosten möglichst vieler anderer zu verteidigen und auszubauen, treibt ein Fünftel oder gar ein Drittel der Bevölkerung der höchstentwickelten Staaten rechten Demagogen zu, die heute wie gestern versprechen, die gesellschaftliche Entwicklung aufzuhalten oder umzukehren und all diejenigen zu beglücken, die »zu uns« (zu unserem Stamm) gehören.

Neue Namen, altes Programm

Nach ihrer militärischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg und dem Bekanntwerden des Genozids an den europäischen Juden durch die Nürnberger und die Auschwitz-Prozesse leugnete ein Teil der Faschisten hartnäckig seine Untaten, ihre Mehrheit zog es indessen vor, einfach den Namen zu wechseln. In den Ländern »ohne Juden« gab es darum plötzlich auch keine Faschisten mehr. Die Faschisten oder Nazis von heute (»Neonazis«) sind solche, die nicht mehr bei ihrem richtigen (Partei-)Namen genannt werden wollen; sie ziehen Pseudonyme vor. Doch das Programm dieser heutigen Faschisten, die gerade drauf und dran sind, sich wie in den dreißiger Jahren zu einer Internationale der Nationalisten zusammenzuschließen, gleicht dem ihrer Vorgänger aufs Haar: Gegen die Herrschaft der Finanzkapitalisten haben sie nichts einzuwenden. Sie hoffen, dass diese sie in der nächsten Krise zu Hilfe rufen und sie dann für ihre Dienste fürstlich belohnen, wenn sie gegen die Gleichberechtigung der Menschen kämpfen.

Sie versprechen, den (jeweiligen) Nationalstaat durch »Homogenisierung« der »angestammten« Bevölkerung, autarke Wirtschaftspolitik und Abschottung gegen Migration zu verteidigen; sie geloben, die Stammbevölkerung gegen eine angebliche »Umvolkung« zu schützen und deren »heimische« Kultur (die »überkommenen« Werte) vor »Überfremdung« zu bewahren. Erweist dies Programm sich als utopisch, so werden sie - wie ihre Vorgänger - nicht zögern, es gewaltsam in die Tat umzusetzen, gleichgültig, welche Opfer das fordert.

Matteo Salvini

Einer ihrer führenden Politiker in Europa ist Matteo Salvini von der Partei Lega, seit anderthalb Jahren Innenminister und der »starke Mann« in der derzeitigen italienischen Regierung. Seit 1998 hat er sich in Wort und Tat als Faschist erwiesen. Bis Anfang 2018 war er stellvertretender Fraktionsvorsitzender des rechtsradikalen Bündnisses »Europa der Nationen und der Freiheit« im Europaparlament. Er plädierte für die Trennung von Italienern und Einwanderern in Eisenbahnabteilen. Und über Sinti und Roma meinte er, es müsse ja schließlich einen Grund dafür geben, dass sie als »Diebe« angesehen würden. Im Bund mit der faschistischen »Casa Pound« (und mit Wladimir Putin) schlug er 2014 eine Aussetzung des Schengen-Abkommens vor.

Den italienischen Präsidenten und früheren Widerstandskämpfe Carlo Ciampi nannte er (nach dessen Tod 2016) einen »Verräter Italiens und der Italiener«. 2015 lud Salvini zu einer Großveranstaltung der Lega sowohl Anhänger der griechischen Partei Goldene Morgenröte als auch den deutschen »Vordenker« Götz Kubitschek ein. Nach einem Anschlag auf afrikanische Migranten schrieb Salvini, die »unkontrollierte Einwanderung« führe zu »Chaos, Wut und sozialen Zusammenstößen«. Er hat wiederholt die Landung von Flüchtlingsschiffen, die Afrikaner vor dem Ertrinken im Mittelmeer retteten, in italienischen Häfen untersagt, jüngst eines dieser Rettungsschiffe beschlagnahmen und dessen Kapitänin verhaften lassen. Anfang des Monats setzte Salvini neue weitreichende Vollmachten für die Polizei durch - unter der Bezeichnung »Sicherheitsergänzungsgesetz«. Ende der Woche kündigte Salvini ein Mißtrauensvotum gegen »seinen« (parteilosen) Ministerpräsidenten Giuseppe Conte an und forderte Neuwahlen. Am vergangenen Freitag erklärte die Lega: »Wer Zeit verliert, schadet dem Land«.

Helmut Dahmer ist Soziologe und lebt in Wien. Vor kurzem erschien im Verlag Westfälisches Dampfboot sein neues Buch »Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis«.

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