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Love, Peace & Freizeitpraxis
50 Jahre Woodstock sind genug! Das geplante Jubiläumsfestival zum Jahrestag ist mittlerweile abgesagt
Die etwas älteren Leser kennen vermutlich noch das Partyspielchen »Wer hätte bei Woodstock eigentlich dabei sein müssen?«. Die etwas Jüngeren stellen eine ähnliche Frage zum »Live Aid«-Konzert, und die ersten Antworten lauten ganz bestimmt: Bananarama, Pet Shop Boys, Culture Club, Madonna, Tears for Fears. Und wenn man zehn plausible Antworten zusammenhat, gibt es was zu trinken und man stellt sich die nächste Frage. Dabei war Woodstock eine ziemlich ernste Sache, auch wenn man den Begriff »Mythos« überhaupt nicht zu verwenden beabsichtigt.
Die Wochen vor dem ersten Festivaltag, Freitag, den 15. August 1969, verlaufen für die Popwelt verhältnismäßig turbulent. Höhepunkte sind dabei das Gratiskonzert der Rolling Stones im Londoner Hyde Park (mit obskur populären Vorgruppen wie King Crimson oder Family) sowie die erste Mondlandung. Ein paar wackelige Bilder gibt es vom Mond, von den Pop- und Rockstars dieser Tage sind längere Clips oder selbst Fotos - insbesondere im deutschsprachigen Raum - äußerst rar. Da liefert schon das bisschen »Beat-Club« im Fernsehen einen seltenen, aber regelmäßigen Blick in eine weit entfernte Welt. Und dann kommt Woodstock.
Trotz der unzähligen Probleme für alle Beteiligten hinter, auf und vor der Bühne gelingt es der dreitägigen Veranstaltung, zu einem zentralen Ereignis in der Musik- und Popgeschichte zu werden. Entscheidenden Anteil daran haben der einige Monate später in die Kinos gekommene Dokumentarfilm über das Festival und das kurze Zeit danach erschienene, drei Langspielplatten umfassende »Woodstock«-Musikalbum. Allein die Länge des Films (184 Minuten) und der auch damals schon unübliche Umfang des Tonträgers verweisen auf die Größe des dokumentierten Ereignisses. Der Comiczeichner Charles M. Schulz gibt umgehend dem bis dahin namenlos auftretenden Vögelchen in seinen »Peanuts«-Comics den Namen »Woodstock«.
Mit diesen Bild- und Tondokumenten erhalten die Jugendlichen erstmals weltweit Informationen über eine sie interessierende Freizeitpraxis. Der Film zeigt weit mehr als nur die musizierenden Künstler, nämlich auch den Festivalalltag der Besucher, das Überleben vor Ort. Und so erfährt die sich nach Bildern sehnende Peergroup, was für eine halbe Million hauptsächlich US-amerikanische Gleichaltrige an einem langen Wochenende so als normal durchgeht. »Woodstock«-Film und -Schallplatten liefern somit Soundtrack und Manual für einen Lebensstil mit einer riesigen Reichweite. Verstärkt wird dieser Einfluss durch den zu Beginn der 70er Jahre noch notwendigen Kinobesuch, bei dem man sich dann erneut in der Gemeinschaft Gleichgesinnter der eigenen Normalität versichern kann. Das ist die erste Globalisierung eines Coolnesskonzeptes, das neben der Musik auch Kleidung, Frisuren und Freizeitaktivitäten beinhaltet. Etwas später werden der Musiksender MTV und heute unter anderem die Youtube-Influencer eine ähnliche Funktion übernehmen, mit der für die Verbreitung von Coolnessmustern gesorgt wird.
Auf dem »Woodstock«-Plattencover ist - seinerzeit ziemlich unüblich - kein virtuos musizierender Künstler zu sehen, sondern Publikum: ein sich umarmendes Pärchen, stehend, gehüllt in eine Decke, um sie herum Rasenfläche, Abfälle und weitere, meist liegende oder sitzende Festivalbesucher. Das Paar soll heute noch zusammenleben. Es hat sich damals also schon abgezeichnet, dass die in einen Kokon gehüllte Paarbeziehung allem Unbill der näheren Umgebung trotzen kann. Das ist natürlich auch cool. Auf der Hülle der englischen VHS-Videokassette ist genau dieses Bild seitenverkehrt zu sehen. Was immer man auch damit zeigen will.
Der größte Verlierer dieser Veranstaltung ist die Rockgruppe Mountain, nölige Hardrocker um Leslie West, einen der am meisten unterbewerteten Gitarristen der Rockmusikgeschichte. Ihr Auftritt erscheint weder im Film noch auf dem ersten Schallplattenalbum. Sie schaffen es nicht in das Coolnessprogramm der 70er-Jahre-Partys. (Ich kann mich an keine Studentenparty oder Disco dieser Jahre erinnern, in der auch nur ein DJ einen Mountain-Song aufgelegt hätte. Ich wüsste auch nicht, welchen.)
Die Band Creedence Clearwater Revival dagegen benötigt den Festival-Hype nicht und verkraftet das Nicht-Erscheinen im Film und auf der Platte. Mit drei großen Singlehits im Gepäck (»Proud Mary«, »Bad Moon Rising«, »Green River«) bekommen sie eine der höchsten Gagen auf dem Festival. Und mit ihrem zwei Monate nach Woodstock erscheinenden Song »Fortunate Son« wird die berühmte Vietnam-Sequenz in dem Film »Forrest Gump« eingeleitet.
In einer ganz anderen Liga spielt Jimi Hendrix, Großverdiener bei Woodstock. Eigentlich als der Headliner vorgesehen, muss er schließlich am Ende des Festivals spielen, das sich aus diversen Gründen in den Morgen des Montags verschob. Und so gibt es nicht Jimi Hendrix zur Prime Time auf einer dunklen Festivalbühne vor über 300 000 Zuhörern, sondern Jimi Hendrix bei Tageslicht vor müden, abreisenden Festivalbesuchern, vielleicht 30 000 sind es, die noch ausharren. Das hat etwas Deprimierendes. Aber wie er in seiner Interpretation von »Star-Spangled Banner« die US-amerikanische Nationalhymne auf seiner Stratocaster zerpflückt, das geht auch heute noch als cool durch. Der Aufbruch verheißende Hendrix-Sound trifft auf den Abbruch des Festivalbesuchs vieler Zuhörer. Irgendwo zwischen Aufbruch und Abbruch, da ist die Haltung der Woodstockianer und die durch das Festival geschaffene Coolnessidee zu sehen.
Die Erwachsenen fliehen auf den Mond, ihre Kinder in die Musik. Das ist die Geburtsstunde der Generation W (»Woodstock«), die eigentlich nur in der peinlichen Verniedlichungsform als »Baby Boomer« bekannt geworden ist. Anschließend folgt - nicht nur im Alphabet - die Generation X. Den Rest kennt man. Der Popkanon der aktuellen Generation Z setzt sich aus Greta Thunberg, Billie Eilish und einigen Youtube-Influencern zusammen. Und wenn man genau hinschaut, dann entdeckt man auch bei diesen jungen Menschen noch Elemente einer Inszenierungspraxis, die vor 50 Jahren begann.
Die Generation W hat ihre global gültige Style-Bibel gehabt. Bei Lollapalooza oder in Wacken, bei Coachella oder in Glastonbury werden ganz andere Aspekte ver- und behandelt.
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