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Nichts ist rosarot
Ein Tag in einem Seniorenzentrum: Mal fröhliche, mal wütende Bewohner. Dazu Pflegekräfte mit Geduld und Überredungskünsten.
Bevor Patricia L.* an diesem Morgen in ihr Auto steigt und sich aus der Eberswalder Straße im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg auf ihre einstündige Heimfahrt nach Rüdnitz macht, erzählt sie Christian K., wie die Nacht war. Im Wohnbereich »Mittagssonne« ist er für die Frühschicht verantwortlich. Es sei soweit alles ruhig gewesen, sagt Patricia L. Zusammen mit ihrem Kollegen bewacht sie nachts nicht nur die 18 Bewohnerinnen und Bewohner dieses Bereichs, sondern auch alle anderen Menschen im Seniorenzentrum. Die beiden haben Tabletten oder Getränke verabreicht, hier ein Kissen zurecht gerückt, dort ein paar beruhigende Worte gesprochen. Jetzt, um halb sieben, ist Feierabend. Um neun Uhr wird die 29-Jährige im Bett liegen und schlafen. Eigentlich eine ganz freundliche Übergabe für die Frühschicht. Christian K. ist dennoch nervös.
Gerade hat ihn die Nachricht erreicht, eine Pflegehelferin habe sich krank gemeldet. Die Frauen und Männer, für die sein Team verantwortlich ist, sind gerade dabei aufzustehen. Die meisten brauchen Unterstützung, denn in der »Mittagssonne« leben Menschen zwischen 73 und 92 Jahren, die an Demenz erkrankt sind. Manch einer könnte sich zwar ankleiden, findet aber die Sachen nicht oder weiß mit der Zahnbürste plötzlich nichts mehr anzufangen. Die eine oder der andere braucht Zuspruch, um überhaupt das Bett zu verlassen. Schon die Idealbesetzung von einer Fachkraft, einer Betreuungsassistentin, zwei Pflegehelferinnen sowie der erfahrenen Hauswirtschaftsmitarbeiterin hat zu tun, um alle für den Tag vorzubereiten. Waschen, kämmen und anziehen gehören dazu, die Begleitung aus dem Zimmer an den Frühstückstisch, mitunter das Waschen direkt im Bett, weil manche nicht mehr aufstehen können. Oder auch die geduldige Verabreichung eines Frühstücksjoghurts unter Aufbietung aller Überredungskünste. Zu jedem Happen eine Geschichte. Fehlt eine Mitarbeiterin, wird der Tag zur Herausforderung.
Zum Glück kann Nane B. einspringen. Die 30-jährige Wohnbereichsleiterin hat heute ihren Bürotag und ist schon im Haus. Routiniert klopft sie an die Türen im Erdgeschoss, steckt ihren Kopf mit dem Gute-Laune-Lächeln hinein, um einen schönen Morgen zu wünschen. Nicht immer wirkt das ansteckend. Demenz ist oft von Depressionen begleitet. So auch bei Sigrid G. Der ehemaligen Hochschullehrerin fällt es schwer, sich helfen zu lassen, auch wenn es gerade gut passen würde. Sie ist eine starke Frau, die eine beeindruckende Berufskarriere hingelegt hat, und ihr Leben bewältigte. Doch jetzt weiß sie nicht mehr, wo sie sich hier überhaupt befindet. Da hat sie das Recht auf trübe Stimmung, findet Nane B. Sie verlässt das Zimmer, um später einen erneuten Versuch zu starten. Sigrid G. öffnet noch einmal die Tür, um der Pflegerin einen Satz hinterher zu schicken, der ihr ganzes Dilemma zusammenfasst: »Es wird alles immer so rosarot ausgemalt«, ruft sie mit tief besorgter, unglücklicher Miene. »Aber so ist es nicht!«
Rosarot ist weder diese Krankheit, noch sind es die Umstände, unter denen Männer und Frauen damit leben - sei es wie die meisten zu Hause bei ihren Angehörigen oder in einer Einrichtung der evangelischen St. Elisabeth Diakonie gGmbH mitten in Berlin. Hier tobt das Leben nicht nur auf der Straße, wohin sich das eine oder andere Mal auch eine oder einer von der »Mittagssonne« verirrt, sondern auch in den zwei Etagen des Demenzbereiches. »Ich liebe es, wenn die alten Leutchen mal auf den Tisch hauen«, sagt Malgorzata D., seit einem Jahrzehnt als Pflegefachkraft hier im Haus. Sie vertieft sich gern in die Geschichten der Bewohner. »Ella H. zum Beispiel hat ein Hotel auf Sylt geführt, eine tolle Frau. Sie besitzt ein Diplom als beste Chefin der Welt.« Erzählen kann sie es nicht mehr, Ella H. wird 92 und schreit oft laut. Mal fröhlich, mal wütend. Vor zehn Jahren stand sie noch mit der weißen Schürze in der Hotelküche.
Demenz heißt so viel wie »ohne Verstand« und bezeichnet den Verlust der mentalen Fähigkeiten. In Deutschland sind 1,7 Millionen Menschen betroffen. Ein Teil lebt in kirchlichen, kommunalen oder privaten Pflegeeinrichtungen. 70 Prozent der betroffenen Menschen haben eine Demenz vom Typ Alzheimer. Nervenzellen gehen verloren. Eiweißablagerungen verstopfen die Datenbahnen im Oberstübchen; Erinnerungen werden darunter begraben und vieles von dem, was der Mensch im Leben lernte und speicherte, ist plötzlich nicht mehr abrufbar. »Wir sprechen von einer Krankheit«, sagt Thomas Willnow vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin, »aber im Grunde handelt es sich bei Alzheimer um den natürlichen Alterungsprozess des Gehirns.« Gegen den werde es keine Wunderdroge geben, sagt der Naturwissenschaftler, eher eine Kombination verschiedener Präparate zum Schutz der Nervenzellen und eine bewusstere Lebensführung.
Zu 99 Prozent wird Alzheimer durch eine Mischung genetischer und gesundheitlicher Risikofaktoren hervorgerufen. Zu den wichtigsten genetischen Risikofaktoren zählt das Apolipoprotein E4, auch ApoE4 abgekürzt. Bei Trägern macht es Alzheimer zehnmal wahrscheinlicher als bei anderen Menschen. Zu den gesundheitlichen Risikofaktoren zählen Diabetes, hoher Blutdruck und Übergewicht. Dies schädige die Blutgefäße im Gehirn. »Es klingt banal«, sagt Willnow, aber man kann »dem Alzheimer davon laufen«, durch körperliche und geistige Fitness. Verliere der Mensch einen Teil seiner Nervenzellen, sei es von großer Bedeutung, wenn der vorhandene Rest der kognitiven Reserve gut trainiert sei.
Die familiäre Demenz vom Typ Alzheimer ist hingegen sehr selten. Nur ein bis zwei Prozent der Betroffenen besitzen Willnow zufolge eines der drei bekannten Krankheitsgene, die unweigerlich zum Ausbruch der Krankheit führen. Eine Therapie zur Korrektur dieser Krankheitsgene gibt es bislang nicht.
»Wo schlafe ich heute?«, fragt Gisela S. gleich morgens die Pflegerin. Sobald sie ihr Zimmer verlassen hat, kann sie sich nicht mehr an diesen Ort erinnern. »Schlafe ich allein?«, folgt fast immer danach. Die 87-jährige ehemalige Schuldirektorin lebt seit anderthalb Jahren im Seniorenzentrum. Verinnerlichen konnte sie den Umzug aus ihrer mit Hunderten Büchern ausgestatteten Wohnung im Berliner Prenzlauer Berg nicht mehr. Noch immer fragt sie ihre Angehörigen, ob man sie nicht in ein Pflegeheim bringen könnte. Schritt für Schritt durchlitt sie einen mentalen Abbau, der ihr nicht mehr gestattete, eine Zeitung oder ein Buch zu lesen, Socken zu stricken, einen Fernsehfilm anzuschauen oder einem Gespräch zu folgen. Damit waren die wesentlichen Bestandteile ihres Lebens abhanden gekommen. Ängste und Depressionen besetzen nun die Freiräume und bilden zusammen mit Nachkriegserinnerungen - die Familie musste ihre Heimat verlassen und erlebte eine Wochen andauernde Flucht im Nachkriegsdeutschland - in ihrem Kopf eine unheilvolle Allianz.
Andrea P. ist gelernte Krankenschwester, hat langjährige Erfahrungen im Umgang mit alten Menschen, eine Fortbildung für Palliative Care und arbeitet als Betreuungsassistentin für demente Menschen. Sie macht Dinge, die man nicht vermuten würde. So lädt sie eines Tages Gisela S. in eine Spezialrikscha vom Verein »Radeln ohne Alter e.V.« und fährt mit ihr einmal quer durch Berlins Mitte. Touristen machen Platz oder geben der alten Dame die Hand. Gisela S. erkennt den Fernsehturm und das Brandenburger Tor. Am nächsten Tag kann sie sich an das Abenteuer erinnern. Da waren so viele Menschen, sagt sie mit leuchtenden Augen. Und Andrea P. findet: »Auch den alten Mitbürgern gehört der öffentliche Raum.« Sie seien ein Teil der Gesellschaft, für die sie viel geleistet haben und sollten dort gesehen werden.
Doch nicht jeder Bewohner der »Mittagssonne« schafft es hinaus ins pralle Leben, einige verlassen kaum noch ihr Zimmer, manche nicht einmal mehr ihre Schlafstatt. Nane B. wäscht eine Patientin direkt im Bett. Mit geübten Handgriffen zieht sie der Frau das Nachthemd aus, fährt mit dem Lappen sorgfältig über ihren Körper und kündigt jeden Handgriff laut an. Als die Frau ein wenig knurrt und mit den Zähnen knirscht, weiß sie: Das gefällt ihr nicht. »Wir sind schon fertig«, beruhigt sie. »Wollen wir heute das rote T-Shirt anziehen?«
Im großen Aufenthaltsraum hat die 60-jährige Hauswirtschaftsmitarbeiterin Regina F. das Frühstück zubereitet. Sie weiß, was ihre Schützlinge gern essen. Die eine bekommt ein Marmeladenbrötchen, der andere einen Pudding. Im Vorbeigehen räumt sie den Geschirrspüler ein und ermuntert jene, die vor ihrem Teller sitzen und nicht mehr wissen, wie die Dinge von dort in den Mund kommen könnten. Dabei hat sie immer die Tür zum Hausflur im Blick, denn es ist nicht lange her, da ist Hans-Jürgen T. da hinausspaziert und bis zum Flughafen Tegel gefahren. Er hatte zwar aus dem Haus gefunden, aber nicht wieder hinein. Das hört sich lustig an, war es aber nicht. Das Leben in der »Mittagssonne« ähnelt nur selten den Filmen über den Opa, der nicht mehr sagen kann, was er vor fünf Minuten tat, aber mit den ihm verbliebenen Verstandesresten liebenswürdig durch den Tag stolpert, eine Seniorenband gründet oder eine Weltreise unternimmt.
Andrea P. bereitet an diesem Tag ein Bad für Irmtraut T. vor. Das Zimmer sieht aus wie in einem Märchen aus Tausend-und-einer-Nacht. An der Decke über der Badewanne flirren bunte Bilder aus einem Diaprojektor, klassische Musik erfüllt den Raum und exotische Düfte wabern um die Wanne herum, die sich langsam mit warmem Wasser füllt. Außergewöhnlich ist die ganze Atmosphäre, in der sich die Bewohnerin eine Stunde lang entspannen kann. Der Kreislauf wird angeregt, die Atmung vertieft sich. Irmtraut T. ist noch Tage nach dem Bad entspannt und kann sich besser bewegen. Das wärmende Nass wirkt wie eine großflächige Berührung, die jedem Menschen gut tut, erzählt Andrea P. Zwei Niederländer erfanden vor Jahren diese Snoozelen-Methode. Die Wortschöpfung vermischt Kuscheln, Schnuffeln und Dösen. Eine urgemütliche Atmosphäre soll Geborgenheit geben, schöne Erinnerungen wecken und Ängste vertreiben. Ein- bis zweimal am Tag kann hier so eine Eins-zu-eins-Betreuung angeboten werden. Das ist schon was, findet Andrea P. Darüber hinaus setzt man auf Beschäftigung in kleinen Gruppen; Ballspiele im Stuhlkreis, Vorlesen, Raten, Stricken, Abwaschen, Kuchen backen, Singen, Spazieren im großen Garten des alten Hauses direkt in Berlins Zentrum. Hier tummeln sich Hühner, Wellensittiche, Kater Amigo und Kätzchen Amalia, die zur Freude der Bewohner auf deren Schoß hüpfen, sich streicheln lassen oder auf der Sitzfläche des Rollators mit herumfahren.
Marianne M. kommt zur Nachmittagsschicht. Die Sonne scheint, und sie schiebt nach und nach alle Senioren in ihren Rollstühlen auf die Terrasse, bis es hier aussieht wie im Luxussanatorium von St. Moritz. Sie liest ein Stückchen aus der biblischen Geschichte vor. Einige hören zu, andere dösen vor sich hin. Eine Bewohnerin schimpft, das wolle sie gar nicht hören, steht auf, um »nach Hause« zu gehen. Marianne M. streichelt die Frau und hilft ihr, sich wieder zu beruhigen. Machen einen solche Erlebnisse nicht traurig? Auf diese Frage gibt es für Marianne M. keine einfache Antwort. Sie arbeitet seit ihrer Ausbildung in den 70er Jahren in der Pflege und sah darin sehr bald ihre Berufung. Angefangen hat sie in einem Krankenhaus, wechselte später in ein evangelisches Frauenheim und ging danach in das Elisabeth-Stift. »Ich habe mich immer gefragt, wer war der Mensch einmal? Wo kommt er her, was hat er erlebt?« Auch in ihrem Leben war nicht alles rosarot. Sie bekam vier Kinder, machte Trennungen durch, und oft war der »Herzdruck« groß in ihrem Alltag mit seinen Problemen. Aber in der »Mittagssonne« mit all den vertrauten Bewohnern und Bewohnerinnen wurde der oftmals leichter, erinnert sie sich. »Ich empfinde so viel Liebe«, resümiert sie. »Und hier habe ich Menschen, bei denen ich sie lassen kann.« Die Gemütslage der Verwirrten wechsle ständig, manchmal seien sie aggressiv, oft aber auch liebevoll, freundlich und herzlich. »Du bist gut«, hört sie mitunter unerwartet. Eine Bewohnerin, der sie vorher zärtlich über die Wangen gestrichen hatte, rutschte am Abend in ihrem Bett zur Seite und fragte: »Kommst Du auch?« Respekt, Liebe, Humor und Zärtlichkeit sind für Marianne M. das Wichtigste in dieser Arbeit. Als die 63-Jährige in diesem Jahr in Rente ging, hatten einige Angehörige Sorgenfalten auf der Stirn. Wer, wenn nicht Marianne, würde nun Eisbein kochen, wenn sich eine Bewohnerin so sehr nach diesem Gericht sehnt, das nicht auf der Speisekarte im St. Elisabeth-Stift steht. Allein der vertraute Geruch hat Dorothea H. glücklich gemacht, ganz zu schweigen von den zwei Häppchen, die sie davon aß. Die Sorgenfalten glätteten sich wieder, als sich herumsprach, dass Marianne M. noch ein paar Tage im Monat weiter arbeiten wird. So schnell kann sie nicht loslassen.
Auch wenn Menschen wie sie nicht den Verdienst in den Vordergrund rücken, bleibt es unbestritten, dass schlechte Bezahlung ein Grund für das Fehlen von Pflegefachkräften ist. Auch das ist alles andere als rosarot, um mit Sigrid G. zu sprechen. In Berlin liegt der Pflegemindestlohn bei 10,55 - in den westlichen Bundesländern bei 11,06 Euro in der Stunde. Nicht alle Beschäftigten der Branche erhalten ihn. Im St. Elisabeth-Stift werde er gezahlt, sagt Einrichtungsleiter Ralf Knacke Es gebe in der Diakonie-Berlin-Brandenburg-schlesische-Oberlausitz Richtlinien, darüber hinaus das 13. Monatsgehalt, betriebliche Altersvorsorge und Zuschüsse für Wochenend- und Nachtarbeit. Doch »der Beruf ist anstrengend«, die psychische und körperliche Belastung hoch. Wenn er könnte, würde er mehr Betreuungsassistenten einstellen, dann wären die Pflegekräfte entlastet. Knacke ist 50 Jahre alt und denkt noch nicht so oft an den eigenen Lebensabend. Aber er weiß inzwischen, dass nicht alle Bedürftigen zu Hause gepflegt werden können, auch wenn sie es wünschen. »Ich würde mich in jede der drei Pflegeeinrichtungen begeben, in denen ich einmal gearbeitet habe«, sagt er.
Mindestens 16 Euro in der Stunde sollten Pflegefachkräfte in Ost wie West verdienen, findet die Gewerkschaft ver.di. Arbeiterwohlfahrt, Diakonie und Arbeitersamariterbund setzen auf einen einheitlichen Tarifvertrag und werden von den drei Bundesministern für Arbeit, Familie und Gesundheit unterstützt. Woher das Geld für die Gehaltserhöhungen kommen soll, ist offen. Die Eigenanteile für Pflegeheimbewohner sind in schwindelerregende Höhen gestiegen; in Berlin ist ein Drittel von ihnen auf finanzielle Unterstützung des Sozialamtes angewiesen. Für Gisela S. von der »Mittagssonne« zahlt die gesetzliche Krankenkasse jeden Monat 1262 Euro, der Eigenanteil erhöhte sich von 2084 im Mai 2018 auf 2283 Euro im Juli 2019. Doch damit sind ihre Ausgaben nicht gedeckt. Es kommen Friseur und Fußpflege dazu, Kosmetika, Kleidung und Medikamente wie der Lactulose Sirup, den sie benötigt, seit ein starkes Schmerzmittel den Darm lahmlegt. Dieses - in Pflegeheimen sehr häufig verordnete Mittel - erstattet die Kasse nicht.
Die Tochter der betagten Bewohnerin fragte beim Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von der CDU nach. »Gehen die Steigerungen so weiter, zahlen wir in naher Zukunft 3000 Euro für einen Pflegeplatz«, schrieb sie ihm. Die Ersparnisse ihrer Mutter seien aufgebraucht und es gehe jetzt an die von ihr und ihrem Mann, die eigentlich dazu dienen sollten, »unseren Lebensabend zu sichern, denn unsere Rente ist nur noch halb so groß wie die meiner Mutter«. Silvia S. hat nicht erwartet, ihr Schreiben könnte Einsichten hervorrufen, aber ein wenig Hoffnung auf eine ernsthafte Antwort hatte sie schon. Doch es kamen lediglich Floskeln. Eine Mitarbeiterin antwortete, »die turnusmäßig durchgeführten Verhandlungen entsprechen regelmäßig dem normalen Vertragsgeschehen und bilden üblicherweise die allgemeinen Preis- und Lohnentwicklungen … ab«. Die Umstellung auf einen Tariflohn sei gesellschaftlich gewollt. Das könne zu Steigerungen des Eigenanteils führen. Die eigentliche Frage blieb unbeantwortet.
Mit der geplanten Entlastung von Angehörigen bei Pflegekosten könnte sich die Lage von einigen Kindern von Pflegebedürftigen verbessern. Eine Lösung für das gesamte System bedeutet das vom Kabinett beschlossene Gesetz aber nicht. Angesichts von Prognosen, nach denen sich die Zahl der alten und damit auch der verwirrten Menschen bis 2050 verdoppeln wird, scheint eine erneute Pflegereform dringend nötig. Am besten, findet Pflegeheimleiter Knacke, wäre eine Pflegevollversicherung.
In der »Mittagssonne« geht der Tag zu Ende. Dorothea H. sitzt auf der Terrasse und lauscht dem Gespräch ihrer Nachbarinnen über einen bevorstehenden Geburtstag. »Könn›se mir mal eine Schwester holen«, fragt sie in ihrem unnachahmlichen Berliner Dialekt in die Runde. »Ick möchte bloß mal fragen, wie alt ich bin«, erklärt sie und lacht dabei so fröhlich, dass alle um sie herum einstimmen müssen. Dorothea H. wird 92. Hin und wieder raucht die ehemalige Maßschneiderin mit der Figur eines Models eine Zigarette und wenn Geburtstag gefeiert wird, darf es auch mal ein Likörchen sein.
*Die Angehörigen und Beschäftigten haben darum gebeten, nicht mit vollem Namen genannt zu werden.
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