Humboldts Rache

Zum 250. Geburtstag des meistherbeizitierten deutschen Wissenschaftlers.

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 6 Min.

In der Nachwendegeschichte der Berliner Humboldt-Universität gibt es eine winzig kleine Anekdote, die doch recht viel über das Andenken jenes Mannes sagt, der vor 250 Jahren geboren wurde: In den späteren 1990ern verlangten die Rechten im Studierendenparlament, Karl Marx’ Feuerbachthese aus dem Hauptfoyer zu entfernen, die 1953 dort angebracht worden war. Schließlich heiße die Uni ja nicht »Marx«, sondern »Humboldt«! Der Konter darauf stand - Twitter gab es ja noch nicht - etwas später in der Zeitung der von Linken dominierten Studierendenschaft: »Ganz genau, und zwar seit 1949.«

Die Lautstärke des Lachers, den diese Replik unter Humboldt-Studierenden damals hervorrief, erklärt sich vor dem Hintergrund der Schärfe, mit der im Nachwendejahrzehnt rund um die Ostberliner Uni geschichtspolitische Kämpfe um Gedenktafeln und Straßennamen geführt wurden. Der Gehalt der Pointe aber ist bezeichnend, wenn man heute auf den 250. Geburtstag des Forschungsreisenden Alexander von Humboldt blickt: Die CDU-Studierenden der 1990er, die in ihrem Pamphlet zwischen »Humboldt« und »Marx« einen tiefen Graben zogen, hatten sich offenbar gar nicht vorstellen können, dass es die junge DDR war, die der Universität Unter den Linden seinen Namen gegeben hatte. Waren nicht die Denkmäler der Brüder vor dem Hauptgebäude, an denen jene Bilderstürmer allmorgendlich vorbeigingen, anno 1883 aufgestellt worden? Zu Zeiten des Bismarckreiches und seiner Sozialistengesetze, deren Wiederkehr sie sich heimlich wünschen mochten?

Ein Name wie ein Passepartout

Diese Minianekdote lehrt: Die Humboldts - besonders aber Alexander, der jüngere Bruder -, gehören zu den wenigen Figuren der deutschen Geistesgeschichte, die eine Art Passepartout besitzen. Mit denen man also nichts falsch machen konnte, ganz gleich, unter welchen politischen Bedingungen und ideologischen Prämissen. Wie viele Humboldt-Gymnasien es zwischen Greifswald und Konstanz gibt, müsste man nachzählen: Es werden kaum weniger als Goethe-Schulen sein. Und mutmaßlich würde diese Erhebung ergeben, dass der Name nicht nur im Kaiserreich, sondern auch zu Zeiten der Weimarer, der Bundes- beziehungsweise der Deutschen Demokratischen Republik fast gleichermaßen bemüht wurde.

»Humboldt« ist eine Chiffre nicht nur des traditionellen Bildungsbürgertums, sondern auch für dessen schärfste Kritiker. Das gilt selbst für Alexander Abusch, der in seiner 1945 unter dem Titel »Der Irrweg einer Nation« erschienenen Abrechnung mit der deutschen Geistesgeschichte eine Linie von Luther zu Hitler gezogen und den Deutschen eine »Selbstreinigung« verordnet hatte: Nicht einmal er musste sich bezüglich Humboldts revidieren, als er 1969 - inzwischen stellvertretender Vorsitzender des DDR-Ministerrates - zu dessen 200. Geburtstag eine Laudatio auf den »Freund der Völker« hielt. Laut Abdruck in dieser Zeitung sah Abusch in Humboldt - anders als jene Nachwendestudenten - das Bindeglied zwischen dem »Humanismus Johann Wolfgang Goethes und dem sozialistischen Humanismus von Karl Marx«.

Abusch hatte seine Kenntnisse über - und seine Begeisterung für - Alexander von Humboldt in den 1940ern im mexikanischen Exil erworben. Für den Kreis der dortigen Faschismusflüchtigen um Anna Seghers, Egon Erwin Kisch, Walter Reuter, Mariana und Paul Westheim, Ludwig Renn, B. Traven und Max Aub, aus dessen Mitte Abusch sein Wutbuch vom »Irrweg« geschrieben hatte, war Humboldt eine rare positive Verbindung zur Heimat. War er doch in Mexiko damals (wie heute) sehr hoch angesehen, hatte ihn doch Benito Juárez - mexikanischer Freiheitsheld schlechthin und erster indigener Staatsmann des Kontinents nach der Kolonisierung - kurz nach seinem Tod zum »Benemérito de la Patria« erhoben, weil er für Mexikos Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialmacht eingetreten war.

Abuschs Text zum 200. Geburtstag macht deutlich, wie Alexander von Humboldt vor allem durch die DDR-Rezeption eine Art Verdopplung durchlief. Während Humboldt 1969 sowie davor (und danach) im bundesrepublikanischen Bildungsbürgertum sehr allgemein als »Weltbürger«, »Humanist« und Mann der »Freiheit«, vor allem jedoch als »großer deutscher Wissenschaftler« gefeiert wurde, der auf seinen Reisen Geografie, Geologie, Kartografie, Mineralogie, Botanik usw. vorangetrieben habe, grub Abusch in Werk und Nachlass nach einem antirassistischen, antikolonialen Vordenker.

Und das nicht ohne Ertrag: Ins Feld führen konnte er etwa Humboldts empörte Reaktion darauf, dass 1856 in einer US-Ausgabe seiner Kuba-Studien - vor dem Hintergrund der Polarisierung zwischen Nord- und Südstaaten - das Kapitel fehlte, in dem er die Sklaverei verdammt. »Auf diesen Teil meiner Schrift«, kommentierte Humboldt, »lege ich weit größere Wichtigkeit als auf die mühevollen Arbeiten astronomischer Ortsbestimmungen, magnetischer Intensitätsversuche oder statistischer Angaben.« Gegen den Humboldt des westdeutschen Feuilletons oder jenes kaiserzeitlichen Denkmals (re-)konstruierte Abusch seinen Humboldt als »Historiker und als Gesellschaftswissenschaftler, den das Leben des Volkes, insbesondere der ›letzten Klassen‹, mindestens in gleichem Maße interessierte wie geografische oder botanische Fakten«.

Wie eine List der Geschichte

Obwohl man noch immer auf Versatzstücke seines »Irrwegs« - in teils überraschenden Kontexten - trifft, ist Abusch heute vergessen. Seine Lesart aber, nach der Humboldt als Katalysator zur Überwindung »der kolonialen Missstände, der Ausplünderung der Indios« und der Sklaverei zu betrachten sei, scheint sich zum 250. Geburtstag wie durch eine List der Geschichte zu bewahrheiten: Die Idee, in das Berliner Stadtschloss ein »Humboldt-Forum« zu platzieren, hat einer neuen Debatte über den deutschen Kolonialismus und sein Vermächtnis den Anlass gegeben - was beileibe nicht der Plan war.

Der Schlossbaubeschluss entstammt einem Nachwendediskurs, der das »historische Berlin« wiederhaben wollte und damit das Kaiserliche meinte: Eine Vorentscheidung fiel unabhängig von der Frage nach der Nutzung. In den späten 1990ern fahndeten Politik wie Feuilleton verzweifelt nach einem »Inhalt« für das prägende Bauwerk. In der um 2000 aufgekommenen Idee, darin die kolonialen Sammlungen des Wilhelmreiches zu präsentieren und Humboldts Namen darüberzuschreiben, sah lange niemand ein Problem. Denn Humboldt, wie gesagt, gilt hierzulande immer als Ausweis von Humanismus und Weltläufigkeit. Und dass diese Sammlungen selbst skandalisiert werden könnten, lag weit jenseits des Horizonts der damaligen deutschen Debatte.

Dann aber wurde Berlin von Ausläufern jener jüngeren Kolonialismuskritik erreicht, die an Unis als »postcolonial studies« firmiert und vor allem auf kulturelle Repräsentation abstellt. Aus solcher Sicht waren jene Sammlungen geradezu ein Paradebeispiel von Postkolonialismus, befinden sich doch darin nicht nur zahlreiche Beutestücke, sondern spricht deren Präsentation etwa auch vom - kolonial bedingten - »Aussterben« von Menschengruppen, als gehe es um Tiere. Diese Kritik fand erstmals 2013 im Manifest »No Humboldt 21« konzentrierten Niederschlag - empfindlich für die Forumsplaner, kam die Intervention doch gerade aus jenen kunstaffinen, kosmopolitischen Sphären, an die man appellieren wollte.

Diese neue Kritik hebt nun weniger auf den Widerspruch zwischen dem Kolonialkritiker Humboldt und jener Kolonialgüterschau ab, die seinen Namen tragen soll. Teils zielt sie darauf, Humboldt selbst als Repräsentanten des Kolonialzeitalters zu porträtieren - als Europäer, der »entdeckt«, was ja schon immer da war, dessen Forschung bei aller Kritik vom Kolonialregime ermöglicht wurde und der in der Katalogisierung seiner menschlichen Objekte das Europäische als Norm festschreibt. Auch die konkretere - von Kisch schon in jenen mexikanischen Exildiskussionen erhobene - Vorhaltung findet sich wieder, Humboldt habe sein Wissen dadurch kolonialer Verwertung geöffnet, dass er es dem US-Präsidenten Thomas Jefferson zur Verfügung stellte.

Dennoch bestreitet niemand, dass Humboldt seiner Zeit voraus war, was sein Verhältnis zum Kolonialen angeht. Insofern müsste das Berliner »Forum«, um seinen Namen mit Recht zu beanspruchen, heute gegenüber vergleichbaren Einrichtungen einen ähnlichen Vorsprung in Belangen globaler kultureller, ökonomischer, ökologischer und sozialer Gerechtigkeit abbilden, wie ihn Humboldt damals innehatte - alles andere wäre keine zukunftsweisende Aktualisierung, sondern nichts anderes als belangloser Historismus. Dass nun seine jüngste Anrufung im Berliner Schloss zeigt, wie weit man davon noch entfernt ist, das ist wohl Humboldts Rache am heutigen Humboldtismus.

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