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- Daniela Dahn
Der Anspruch des Unerfüllten
Was aus den Forderungen der Zivilgesellschaft von 1989 geworden ist.
Was im Osten überdrüssig und übermütig als friedliche Revolution begonnen hatte, wurde im Westen gekontert mit dem Ausblick auf eine Zukunft, die den über die Freiheit des Konsums hinausgehenden Erwartungen oft nicht standhielt. Sieht man sich heute die programmatischen Gründungsdokumente der damaligen Bürgerbewegungen, oppositionellen Gruppen, Runden Tische, neuen Parteien und die kirchlichen Stellungnahmen an, so erhebt das Unerfüllte immer noch Anspruch. Den dringlichen Forderungen nach Reise- und Meinungsfreiheit, nach einem Ende von Bevormundung und Privilegien der Funktionäre kann man, soweit das für Habenichtse möglich ist, mit der Einheit den Status: erfüllt zubilligen.
Das ist keinesfalls gering zu schätzen. Es war aber, angesichts des Sonderrechts Ost, der fehlenden Chancengleichheit und des Beharrens auf herkömmlichen Demokratieformen im beizutretenden Gebiet, nicht eben revolutionär. In den ersten Jahren sprach nicht nur der Initiator der Leipziger Montagsdemos, Pfarrer Christian Führer, davon, dass der eigentliche Teil der Revolution noch ausstehe. Inzwischen sind solche Stimmen angesichts der Realitäten verstummt oder auch verstorben, wie die Bürgerrechtler Bärbel Bohley oder Wolfgang Ullmann.
Die Publizistin Daniela Dahn arbeitete beim DDR-Fernsehen, kündigte 1981 und ist seitdem freiberufliche Autorin. 1989 gehörte sie zu den Gründern der Oppositionsgruppe Demokratischer Aufbruch, die sie nach wenigen Monaten wegen deren Annäherung an die CDU verließ. Bekannt wurde sie mit Büchern wie »Prenzlauer Berg Tour« (1987) und »Wehe dem Sieger!« (2009).
Ihr soeben erschienenes Buch »Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit – eine Abrechnung« ist eine Bestandsaufnahme deutsch-deutscher Zustände nach fast 30 Jahren Einheit. Der hier abgedruckte Text entstammt diesem Buch. Es erschien bei Rowohlt, hat 288 Seiten und kostet 14 Euro als Paperback.
Als oberstes Ziel aller Entwürfe wurde immer wieder ein »solidarisches Gemeinwesen« gewünscht. Das hat zweifellos den Status: nicht erfüllt. Die Konkurrenzgesellschaft atomisiert die strampelnden Einzelwesen und schleudert sie mit ihrer Zentrifugalkraft in immer neue, voneinander getrennte Umlaufbahnen. Auch die damaligen Vorstellungen über den Charakter von Freiheit lassen sich heute kaum als erfüllt betrachten. Die von der Schriftstellerin Christa Wolf formulierte Präambel des Verfassungsentwurfs der Vertreter des Runden Tisches und einer Expertengruppe aus namhaften, vorwiegend westdeutschen Juristen drückte die Überzeugung aus, »dass die Möglichkeit zu selbstbestimmtem verantwortlichen Handeln höchste Freiheit ist«.
In der Möglichkeitsform ist diese Voraussetzung gegeben. Selbstbestimmung wird allerdings ohne eine angemessene Arbeit, und damit verbundene Vergütung, schon schwierig. Und die Mittel für verantwortungsvolle Teilhabe am politischen Geschehen werden bekanntlich mehrheitlich als so mangelhaft empfunden, dass von Fassadendemokratie die Rede ist und notwendiger Selbstermächtigung. Von »höchster Freiheit« wird also kaum jemand reden wollen. Reduziert man die Forderung auf die dennoch wichtige »Vergrößerung der bisherigen Spielräume persönlicher Freiheit«, so lässt sich mit Genugtuung mehrheitlich bilanzieren – Status: erfüllt.
Revolutionär wurden die damaligen Forderungen auch dadurch, dass neben Verbesserungen im eigenen Leben auch die Belange des ganzen Landes und der Menschheit (Neues Forum) bedacht wurden. Zwar wünschte man sich ein vielfältigeres Warenangebot, sah aber auch die ökologischen Kosten und plädierte für eine »Abkehr von ungehemmtem Wachstum«. Der Sozialismus dürfe »nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht« (Demokratie Jetzt). Doch alle systemrelevanten Veränderungen bekamen geradezu automatisch den Status: abgelehnt.
Der Energieverbrauch sollte spürbar reduziert werden wie auch die Vergeudung natürlicher Ressourcen. Wer Umweltschäden verursacht, sollte dafür haften, also die Schäden bezahlen und ausgleichen. »Wir müssen lernen, unsere Wirtschaft und unsere Bedürfnisse dem Schutz der Umwelt unterzuordnen.« Status: bedrohlich verschlimmert. Die Marktwirtschaft sollte mit einem »strikten Monopolverbot zur Verhinderung undemokratischer Konzentration ökonomischer Macht« belegt werden (DDR-SPD). Die Demokratisierung sollte auch vor der Wirtschaft nicht haltmachen. Sozialismus und Demokratie sollten miteinander versöhnt werden (Demokratischer Aufbruch). Status: abgelehnt.
Entschädigte Enteignungen zugunsten des Allgemeinwohls sollten möglich sein, die Privatisierung von Gemeineigentum aber streng reglementiert werden. Der überragenden Bedeutung einer sicheren Wohnung für ein menschenwürdiges Leben war besonderes Gewicht beizumessen. Status: in der Diskussion. Artikel 32 des Verfassungsentwurfs sah vor: »Das Eigentum und die Nutzung von land- und forstwirtschaftlichen Flächen, die einhundert Hektar übersteigen, ist genossenschaftlichen und öffentlichen Einrichtungen und den Kirchen vorbehalten.« Über das Privateigentum hinaus ging es um die »Pluralisierung der Eigentumsformen«. Wobei das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln vorherrschend sein sollte (Böhlener Plattform). »Wir wenden uns entschieden dagegen, dass politbürokratische Unterdrückung durch kapitalistische Ausbeutung ersetzt wird.« Status: abgelehnt. Wertsteigerungen von Boden durch Umwandlung in Bauland stehen den Kommunen zu. Status: Ansätze von Diskussion.
Gefordert wurden politische Verhältnisse, die die Bürger kontrollieren, durchschauen und verändern können. Direkte Demokratie sollte gefördert, der Einfluss von Betriebs- und Bürgerräten erhöht, Volksentscheide, bei Zugang aller zu Öffentlichkeit, ermöglicht werden. Die Akten der Geheimdienste sollten auf beiden Seiten geöffnet werden. Status: unerfüllt und abgelehnt.
Der erreichte Stand der Gleichberechtigung von Frauen und Männern sollte verteidigt und verbessert werden, ebenso das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft. Status: in der Diskussion.
Es ging um drastische Senkung der Militärausgaben (Demokratischer Aufbruch), um friedliche Konfliktlösung, um das Konzept der strukturellen Angriffsunfähigkeit und das Wachstum der Konversionsindustrie. Losung: Raketenschlepper zu Straßenkränen. Status: bedrohlich verschlimmert.
Immer wieder ging es darum, »Bewährtes zu erhalten« (Bund der Evangelischen Kirchen) und neue Wege zu einer partizipatorischen Gesellschaft zu suchen. Auch die Kirche stehe vor dem Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das Leben erfülle sich nicht im Besitz, »sondern in dem, was ich für andere bin«. Niemand habe gegenwärtig die Lösung. Status: unverändert.
Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Mit entsprechend unvereinbaren Hoffnungen bin ich in den Sog der Einheit geraten. Zumal ich mit diesem doppelten Begehr natürlich zu einer Minderheit gehörte. Sollte sich jemand jenseits dieser Minorität versehentlich bis hierher verirrt haben, so kann ich nur um die Großzügigkeit bitten, dennoch ein wenig weiterzulesen. Und zu berücksichtigen, dass dreißig Jahre ins Land gegangen sind, in denen viele Gewissheiten ins Wanken gerieten. Die Versöhnung von Sozialismus und Demokratie, einst ein Hauptanliegen nicht nur von Rosa Luxemburg, erfährt gerade zumindest rhetorisch eine Renaissance. Von Südafrika bis in die USA. Unter US-Linkeren wächst ein Konsens, wonach Kapitalismus Ungleichheit produziert, der zu Oligarchien führt, die den Weg zum Faschismus bahnen könnten. Auf der Plattform Common Dreams halten zwei junge Frauen ein Transparent hoch: Demokratischer Sozialismus – Kapitalismus hat uns im Stich gelassen! Neben das S-Wort ist ein knallrotes Herz gemalt. Immer wieder wird betont, Sozialismus müsse mehr Gleichheit bringen, ohne dabei die Freiheit zu knebeln.
Es gibt Erfahrungen, die nicht einfach umsonst gewesen sein sollen. Die Möglichkeiten, vermögend zu werden oder große Erbschaften zu machen, waren in der DDR genauso begrenzt wie die, großen Luxus zu kaufen. Das war nicht nur ein Nachteil. Es erleichterte den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und sparte Zeit und Lebensenergie, die man in Freundeskreise investieren konnte. Es ersparte den Familien erbitterte gerichtliche Erbstreitigkeiten, wie ich sie heute staunend verfolge. Die Zweitrangigkeit von Geld war unser Kapital. Mit dieser Diagnose durfte ich nach der Währungsunion zunächst nicht auf allzu viel Zustimmung hoffen. Der Weg ins Paradies schien mit der D-Mark gepflastert.
Niemand konnte sich dem Geldfokus entziehen. Schließlich hatte jeder den berechtigten Anspruch, nun endlich das gesunde Obst zu genießen, den zeitsparenden Geschirrspüler, den gerade erst aufgekommenen Computer. Auch Autos, Immobilien, Trüffel begannen zu locken. Problematisch wurde es erst, als klar wurde, da ist nichts, was sich nicht verzollen und zur Ware machen lässt: Informationen. Algorithmen. Kampagnen. Gesundheit. Bildung. Beziehung. Liebe. Einfluss. Kunst. Krieg. Freiheit. Demokratie. Alles käuflich. Und damit toxisch.
Ich fühle mich den Alt-89ern zugehörig, vertraut mit dem Demokratischen Aufbruch, der einst gemeint war, und dem demokratischen Abbruch, der ihm folgte. Ich versuche Argumente aufzugreifen von denen, die zu wenig gehört werden – die Ostdeutschen, die Frauen, die Friedensbewegten, die Kapitalismusattackierenden, die Antifa, die Geflüchteten, die Putin- und Naturversteher.
Gern spielte man in den letzten Jahren auf den hauptstädtischen Bühnen Becketts »Endspiel«. Da ließ sich gut munkeln: Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.
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