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Die Decke der Zivilisation ist dünn
Türkisches Salut und bulgarische Affenlaute: Fußball lässt einen immer noch gruseln.
Es ist noch gar nicht so lange her, da trug Fußball-Deutschland noch einen ausgesprochen albernen Satz wie eine Monstranz vor sich her: »Fußball hat mit Politik nichts zu tun«, hieß der. Es war die Phrase, die heute nur noch von Rechtsrock-Bands wie »Kategorie C« ventiliert wird, die damit natürlich schlüssig nachweisen, dass das Gegenteil richtig ist. Der offizielle deutsche Fußball (und das Gros der Fankurven) hat sich von diesem Unsinn jedenfalls längst verabschiedet. In Zeiten, in denen an jedem Wochenende Transparente gegen Polizeigesetze oder Politikeraussagen zu sehen sind, wäre alles andere ja auch komplett lächerlich.
Falls es noch eines Beweises bedurfte, dass es tatsächlich kaum ein größeres Schaufenster als den Fußball gibt, durch das man gesellschaftliche Konflikte erkennen kann, wurde der in den vergangenen Tagen erbracht. Türkische Spieler, die mit kindlicher Freude den militärischen Gruß zu Ehren ihrer ruhmreich vor sich hin tötenden Armee erbieten, bulgarische Fans, die den Hitlergruß präsentieren und englische Spieler mit Affenlauten überziehen - wer wirklich Zweifel daran hatte, dass die Decke der Zivilisation auch im Jahr 2019 eine dünne ist, müsste eigentlich mittlerweile klarer sehen.
Dass der bulgarische Verband nach den übel-verharmlosenden Aussagen des Trainers Krassimir Balakov mittlerweile reagiert hat und dass ein paar rassistische Hools verhaftet wurden, ist da nur ein schwacher Trost. Selbst wenn sich die UEFA noch dazu durchringen sollte, ihr eigenes Motto »No to racism« ernst zu nehmen und strengere Maßnahmen als Geldstrafen und Blocksperren ergreift. Dass dann auch der türkische Verband Konsequenzen tragen muss, scheint offensichtlich. Oder was bitte soll die Glorifizierung eines Angriffskrieges mit den viel zitierten europäischen Werten zu tun haben, die ja auch die UEFA angeblich vertritt?
Multikulturelle Werte sind in Deutschland, England, Frankreich etc. auf andere Weise verinnerlicht als in vielen Gebieten Osteuropas und anderen Regionen der Welt, das kann man wohl kaum bestreiten. Und dennoch muss die Frage erlaubt sein, wie es um die Zivilcourage der Nationalspieler in westlichen Nationalmannschaften bestellt wäre, wenn gesamtgesellschaftlich ein anderer Wind wehen würde. In der deutschen Auswahl gibt es zwar einige wenige Spieler, denen man nicht-vorgefertigte und dennoch reflektierte Aussagen zu politischen Fragen zutrauen würde, doch die meisten DFB-Akteure verstecken sich hinter Allgemeinplätzen und Aussagen, die sie für gesellschaftlich oder medial erwünscht halten. In dieser Hinsicht sind sie nicht reifer oder unreifer als viele Gleichaltrige, die weniger gut Fußball spielen.
Es ist allerdings eine gruselige Beobachtung, dass auch die türkischen Nationalspieler, die sich in Paris mit ein, zwei Ausnahmen als Befürworter des Erdogan-Kurses inszeniert haben, letztlich nichts anderes zum Ausdruck bringen als die Mehrheitsstimmung in ihrem Heimatland. Und mindestens genauso gruselig ist es, dass derzeit aus allen Landesteilen Deutschland Meldungen kommen, wonach türkischstämmige Jugendliche und Amateurspieler nach Torerfolgen nun ebenfalls den militärischen Gruß zeigen.
Im Fußballkreis Baden-Baden war es ein Neunjähriger, dessen Geste dem Vater sicher gut gefallen hat. Verallgemeinerungen verbieten sich, auch wenn einiges darauf hindeutet, dass die türkische Community in Deutschland in den letzten Jahren nicht progressiver geworden ist. Semih Kalay, Vorsitzender des Vereins Kickers Baden-Baden, hat alles gesagt, was zu solchen Aktionen gesagt werden muss: »So eine Aktion hat auf dem Sportplatz nichts verloren«, sagte er den »Badischen Neuesten Nachrichten«. »Auf dem Platz soll keine Politik betrieben werden, erst recht keine türkische.«
Für mitteleuropäischen oder gar deutschen Hochmut gibt es nach den Ereignissen am vergangenen Länderspielwochenende sowieso nur bedingt Anlass. Zwar sind Hitlergrüße oder Affengeräusche, also die brachialsten rassistischen Dummheiten, wie sie in Bulgarien zu hören und zu sehen waren, im deutschen Profifußball seit vielen, vielen Jahren nicht mehr zu beobachten gewesen. Doch nach wie vor berichten Fans von TeBe Berlin (fünfte Liga) oder dem FC Carl Zeiss Jena, dass sie bei Auswärtsspielen antisemitisch beleidigt würden. Zwar deutlich seltener als in den Nachwendejahren, aber das ist nur ein schwacher Trost.
Dass hingegen im unterklassigen Amateurfußball und im Jugendbereich antisemitische Töne oft von arabischstämmigen Jugendlichen angeschlagen werden, ist eine Tatsache, die zuletzt vor ein paar Tagen Alon Meyer, der Vorsitzender von Makkabi Frankfurt, ansprach: »Ich will damit nicht sagen, dass die Flüchtlinge die Ursache sind, aber es ist eben eine zeitliche Korrelation zu spüren. Vor allem in den Großstädten Deutschlands kommen die Übergriffe meist aus dem islamisch-arabischen Hintergrund. Im Osten Deutschlands wie jetzt auch in Halle noch von Rechtsradikalen.«
Der offizielle deutsche Fußball - also DFB, DFL und die meisten Vereine - reagiert deutlich wacher als früher auf antisemitische und rassistische Vorfälle, bleibt aber inhaltlich zu oft vage und unverbindlich. Eine Schweigeminute, wie sie nach dem Anschlag von Halle vor dem Argentinien-Spiel stattgefunden hat, ist ebenso löblich wie selbstverständlich. Doch nachdem Ilkay Gündogan und Emre Can ein Foto mit dem Text »Für unser Land, für unsere Soldaten, für unsere Märtyrer« gelikt hatten, hätte man sich vom DFB deutlichere Worte erhofft als mal wieder nur ein Foto mit sich umarmenden Spielern und einem vermeintlichen Bekenntnis folgenden Inhalts zu posten: »Gemeinsam für Offenheit, Vielfalt und Toleranz. Gegen jede Form von Gewalt und Diskriminierung.«
So etwas klingt erst mal gut, würde aber zumindest rhetorisch auch von einigen AFD-Funktionären unterschrieben werden. Im Zusammenhang mit der Solidaritätsbekundung für das türkische Militär sagt es hingegen rein gar nichts aus. Wie überhaupt ein Bekenntnis, das vordergründig von 98 Prozent der Bevölkerung geteilt wird, keines mehr ist. Auch Oliver Bierhoff hat sich schon klarer ausgedrückt als mit der seltsamen Aussage: »Wer Emre und İlkay kennt, weiß, dass ihnen diese Diskussionen sehr leidtun.« Denn die »Diskussionen« brauchen ihnen nicht leidzutun, die sind die logische Konsequenz dessen, was die Spieler auf Instagram als ihren Standpunkt zu erkennen gegeben haben. Menschen, die sich von sich selbst distanzieren und meinen, damit ihren Job retten zu können, kennt man sonst nur aus der Politik.
Weit deutlicher und aussagekräftiger war da schon der FC St. Pauli, der seinen Spieler Cenk Sahin in einem ganz ähnlichen Fall suspendierte - was man im Übrigen durchaus übertrieben finden kann. Ein klares und positives Statement des Klubs war es aber auf jeden Fall - auf Druck seiner Anhängerschaft, die damit bewies, dass humanistische Werte ihr auch dann wichtig sind, wenn sie mal nicht von Nazis bedroht werden.
Man darf nun gespannt sein, wie lange Ilkay Gündogan noch in Medienberichten rituell mit dem Attribut »intelligent« beschrieben wird. Denn was nützt ein sehr gutes Abitur, wenn man innerhalb von kurzer Zeit wiederholt Bekenntnisse abgibt, die man nachher mehr oder weniger glaubwürdig revidieren oder ent-liken muss? Ebenfalls gespannt sein darf man, wie der DFB darauf reagiert, dass beim deutschen Auswärtsspiel in Estland im deutschen Block eine schwarz-weiß-rote Reichsflagge zu sehen war. Die Neunziger sind tot? Nicht überall.
Andererseits: Warum sollte ein nationaler Fußballverband sprachfähiger und politischer sein als die Regierung des Landes? Die Bundesregierung jedenfalls hat es in den vergangenen Jahren nie geschafft, auch die offensichtlichsten Menschenrechtsverletzungen in deutlichen Worten zu ächten und Konsequenzen zu ziehen. Sie hat stattdessen die Waffen für den Krieg geliefert.
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